Fortgeschritten: Die Grabfelder von Luth Nomor


Friedhöfe waren für mich nie ein Ort der Spiritualität gewesen. Nein, ganz im Gegenteil. Es gab für mich nichts Profaneres als jene eingezäunten Flächen voller Stein, Erde und verrottenden Körpern, deren blasses, wächsernes Fleisch genauso wenig mit den einst liebenswerten, vielschichtigen, komplexen Lebewesen zu tun hatte, wie die Urnen voller trockener, verbrannter Asche. Welchen Trost konnte ein Sarg spenden und sei er noch so teuer? Wie konnte Asche Mitgefühl ausdrücken, Lächeln oder Umarmungen geben? Wer an diesen Orten Hoffnung suchte, bekam nur leere Worte, hohle Symbole und Blumen, die sich wenig darum scherten, auf wessen Grab sie ihr Leben fristen durften. Wessen bedeutungslos gewordenes Fleisch sie verdauen und verwerten konnten. Alle Rufe, alles Flehen und Beten verhallte hier still und unerwidert. Doch ist das verwunderlich? Wenn es eine Seele, einen inneren Kern eines Menschen gibt, der auch nach dem Tod noch existiert, so hat er sicher Besseres zu tun, als sich an so einem trostlosen Fleckchen Erde aufzuhalten.

So zumindest war es in meiner Heimat. In Luth Nomor hingegen … liegen die Dinge anders.

Schon der erste Schritt über die feuchte, würzige, schwarze Graberde jagt ein Kribbeln durch meine Füße so als würde der Boden – oder etwas darin – meinen Fußsohlen etwas zuwispern, dass nur sie verstehen können. Hinzu kommt eine gröbere, aber immer noch subtile Vibration als wäre in der Erde nicht nur Klang, sondern auch Bewegung. Aber zu fein oder zu weit unten, um mit bloßem Auge von hier oben wahrgenommen werden zu können.

Der Himmel über mir ist bedeckt mit grauen, drückenden, regenschweren Wolken, die jedoch ihren Niederschlag nicht ablassen, so als würden sie jenes Zeichen der Trauer mutwillig zurückhalten. Trübes Nachmittagslicht drängt sich durch die Wolkenfront und beleuchtet knorrige schwarze Bäume mit ascheweißen Blättern und üppige, von zarten Nebelfingern liebkoste Grabsteine. Manche von diesen Grabmalen sind so groß wie ich selbst, andere größer und nur ein paar wenige kleiner.

Ihre Erscheinung ist mannigfaltig. Einige sind geformt wie Blumen, andere wie Trauben, Kugeln oder humanoide Wesen, doch allesamt rundlich und beinah organisch. Harte Kanten sind selten. Das gilt auch für die turmhohen Mausoleen, die ich so ähnlich bereits in Deovan gesehen habe. Nur sind diese hier schlichter gestaltet und nicht mit Konzernlogos oder anderem Prunk versehen.

Es sind beeindruckende Mahnmale der Endlichkeit, grau und glatt wie polierte Bienenstöcke, mit engen Eingängen, gerade groß genug, um dort hineinzukriechen, wenn man denn so wahnsinnig ist, solches zu tun. Allein der Gedanke daran erweckt ein beklemmendes, klaustrophobisches Gefühl in mir. Doch zugleich fühle ich eine unbestreitbare Verlockung, doch hineinzukriechen. So lange weiterzukrabbeln, zu Drücken und zu Robben, bis ich darin unrettbar feststecke und die trockene, abgestandene nach Knochen und altem Tod riechende Luft mich in einen ewigen, traumlosen Schlaf wiegt.

Um dieser irren Versuchung zu entgehen, lasse ich meinen Blick über die anderen Grabsteine schweifen. Auf fast all diesen Gedenkbauten, vom kleinsten Stein bis zum gewaltigsten Mausoleum sind zu meiner Überraschung gleich mehrere Todesdaten eingraviert, die zu ein und derselben Person zu gehören scheinen. Denn auch wenn ich die Zahlen und Namen darauf nicht entziffern kann, so bin ich mir doch fast sicher, dass es Namen und Zahlen sind, sind sie doch den mir bekannten ähnlich genug, um sie als solche zu erkennen. Und die Bedeutung dieser Zahlen ist so mysteriös wie offenkundig. Sie legen nahe, dass diese Leute gleich mehrmals hintereinander gestorben sind. Diese Vorstellung lässt mich frösteln. Trotz der relativen Wärme und den gigantischen, aber weit entfernten Fabrikgebäuden, deren feuriges, rotes Glühen sich selbst aus dieser Distanz noch ausmachen lässt. Finstere Moloche, deren mattgraue Schornsteine öligen schwarzen und grauen Qualm ausspeien, der die düstere Wolkendecke weiter zu füttern und zu mästen scheint. Was dort hergestellt wird – wenn überhaupt etwas hergestellt wird – kann ich nur mutmaßen.

Die Luft ist – ungeachtet der dicken, feuchten Wolken und des klammen Untergrunds – fast schon staubtrocken und brennt leicht in meiner Kehle. So sehr, dass es mir schwerfällt ein Husten zu unterdrücken. Dennoch tue ich das, so gut ich kann, da ich in einer Welt, über die ich noch so wenig weiß, nichts und niemanden aufschrecken möchte, der mir vielleicht nicht wohlgesonnen ist.

Diese Sorge ist nicht unbegründet. Denn unweit von mir, am Rande jenes Friedhofs, der sich vor mir erstreckt, so weit das Auge reicht, nur unterbrochen von den fernen, Qualm speienden Fabriken, gibt es Häuser. Klein und verschämt und halb im Untergrund vergraben und so mitleiderregend wie Welpen an den Zitzen einer sterbenden Mutter schmiegen sie sich an den Hang einer mit weißen, roten und schwarzen Gräsern bewachsenen Hügellandschaft. Einige dieser Bauten sind kaum hundert Meter von mir entfernt und in manchen ihrer winzigen Fenster brennt Licht.

Sofort fühle ich mich beobachtet und suche instinktiv Schutz hinter einem der großen Mausoleen, deren lockenden Ruf ich mühevoll ignoriere. Die dicken Mauern des Mahnmals jedoch sollten mir einen gewissen Sichtschutz gewähren, zumal das Gebäude sich an dieser Stelle krümmt und Streben ausbildet, die einander zugewandt sind, wie zwei zu einer Umarmung ausgestreckte Arme. Dennoch lässt das Gefühl des beobachtet-Werdens nicht nach. Und das liegt nicht nur daran, dass ich mich frage, ob ich dieses Versteck zu spät aufgesucht habe und die Bewohner von Luth Nomor längst den Mann bemerkt haben, der sich ungefragt auf ihrem heiligen Grund materialisiert hat. Falls er denn heilig ist, heißt das.

Nein, auch wenn mich diese Frage sehr wohl beschäftigt, sind diese Überlegungen nicht das Einzige, was mich verunsichert. Ich habe eher das Gefühl, dass mich etwas von dort drinnen beobachtet, selbst, wenn es mich NICHT gesehen hat. Etwas ohne Augen, aber doch in der Lage zu registrieren, zu verstehen und zu urteilen. Ein plötzlicher Hustenanfall reißt mich nun doch aus meiner Besorgnis und nährt sie sogleich, da es mit der Heimlichkeit jetzt wohl endgültig vorbei ist. Das ärgert mich zwar, denn so wenig Selbstbeherrschung kenne ich eigentlich nicht von mir, aber ich muss auch zugestehen, dass ich nie zuvor einen solch hartnäckigen Hustenreiz erlebt habe. Es fühlt sich an, als wäre es nicht nur wundes und gereiztes Fleisch, sondern ein Kitzeln von tausend kleinen Haaren, die sich selbstständig bewegen. Und jeder dieser Anfälle lässt mich etwas schwächer zurück als zuvor. Eine matte Derealisation wächst in mir und ich fühle mich mit jeder Sekunde müder und erschöpfter, bis ich den unwiderstehlichen Drang verspüre, die Augen zu schließen und meine Hände in die weiche Friedhofserde zu graben.

Kaum tue ich das, lässt der Hustenreiz unvermittelt nach und Entspannung flutet über mich wie ein warmes Bad. Ich seufze wohlig und grabe weiter, mit neu gewonnener Kraft, wühle und drücke mich hinein während die Erde bereitwillig weicht. Ja, alles, was noch fehlt, ist eine Decke. Eine weiche und vollständige Decke über Bauch, Brust und Mund. Ich spüre die Krümmel der Erde, die mich bedecken, mich hinabziehen, mich umschließen, wie …

„Was beim Herztakt tust du da?“, vernehme ich die tadelnde Stimme von Any und das mit Erde verschmutzte Pendel, das ich immer noch in meiner Hand halte, vibriert so kurz, hart und heftig wie ein Peitschenhieb. Sofort bin ich mir sicher, dass Anys Stimme auch genau daher kommt: aus dem Pendel.

Mit einem Mal ist meine Müdigkeit wie fortgeblasen. „Kannst du mich etwa sehen? Verfolgst du jeden meiner Schritte?“, frage ich sie, ohne das ein hörbarer Laut meine Lippen verlässt. Dabei weiß ich nicht, ob mir die Vorstellung, mein Leben als Teil von Anys Reality-Show zu fristen, mehr Angst machen sollte als die Tatsache, dass ich gerade noch drauf und dran gewesen war mir mein eigenes, unmarkiertes Grab im Schatten dieses außerirdischen Mausoleums zu buddeln.

„Gut möglich, dass ich das kann“, antwortet Any, „jedenfalls solltest du dich besser so verhalten, als ob ich das tue. Dieser Schritt jedenfalls war ein sehr dummer. Mit einer Leiche kann ich wenig anfangen und nichts was du für mich tun sollst, könntest du einen Meter unter dieser Friedhofserde erledigen.“

„Haha!“, antworte ich trotzig, „das wäre noch so viel witziger, wenn ich überhaupt wüsste, was du von mir verlangst. Du hast mir nämlich nicht gesagt was genau ich eigentlich suchen soll. Wäre doch ganz praktisch, das zu wissen, meinst du nicht?“

„Bis jetzt musstest du es noch nicht wissen. Und um es dir zu sagen, nehme ich ja Kontakt auf“, erklärt Any ungeduldig, während ich mich etwas nervös in der Gegend umschaue. Zwar habe ich das Gefühl, dass weder meine noch ihre Worte von außen gehört werden können, aber dennoch ist es immer noch möglich, dass mich jemand hier aufspürt und beendet, was ich selbst schon so zuvorkommend angefangen habe.

„Dann schieß mal los? Ich bin ehrlich gesagt nicht sonderlich erpicht darauf, auf diesem Planeten zu verbleiben. Hier liegt mir ein bisschen viel Suizid in der Luft für meinen Geschmack“, antworte ich.

„Stell dich nicht so an“, ermahnt Any, „was du gespürt hast, kommt nur von außen und ist ein Witz gegen wirkliche Lebensmüdigkeit oder Depression. Du bist schon mit schlimmeren Bedrohungen fertig geworden, wenn ich mir deine Aufzeichnungen so ansehe. Du hast einen Lebenssinn. Es ist der, den ich dir gebe. Und wenn dir das nicht reicht, dann besinne dich auf dein Fernweh, wenn du einen Anker brauchst oder was auch immer dich sonst vorwärtstreibt. Was das Artefakt betrifft, so handelt es sich um die sagenhafte Totenuhr. Ein Gegenstand der in enger Verbindung zum Tod und der Sterblichkeit steht. Auf dieser, aber auch auf anderen Welten.“

„Lass mich raten“, bemerke ich spitz, „es handelt sich um ein Stundenglas.“

„Sei nicht albern. Eine Sanduhr wäre viel zu unpräzise für solche Zwecke. Wie alle wirklich zuverlässigen Dinge im Multiversum, arbeitet sie mechanisch. Sie ist gefertigt aus Knochen und Dränngnum, einem nur in Luth Nomor vorkommenden Metall. Aber mehr musst du dazu nicht wissen. Alles, was du tun musst, ist sie aufzuspüren und sie mir zu bringen“, erklärt Any.

„Na wenn’s weiter nichts ist“, sage ich seufzend, „und wo genau finde ich dieses Ding?“

„Das kann ich dir nicht sagen. Nicht weil ich nicht will, sondern weil ich es nicht weiß. Aber die hiesige Bevölkerung weiß es gewiss. Immerhin ist es der heiligste und wichtigste Gegenstand ihrer gesamten Kultur“, antwortet Any.

„Und den soll ich stehlen?“, frage ich ungläubig.

„So ist es“, bestätigt Any.

„Und wenn ich mich weigere?“, frage ich.

„Dann werde ich deinen Willen auslöschen und dich zu einem vollständigen Peripheren machen. Aber das ahntest du sicher schon. Das Gleiche passiert übrigens, wenn du versagst“, gibt Any zurück.

Der kühle, sachliche und völlig undramatische Ton, mit dem sie diese ungeheuerliche Drohung ausstößt, macht sie leider nur noch wirkungsvoller.

„Danke für die Info“, antworte ich knapp, „soll ich nebenbei noch eine Runde mit Planeten jonglieren, die Zeit zurückdrehen und ein paar Götter töten, damit es nicht zu einfach wird?“

„Wer weiß, ob du manches davon noch für mich tun wirst“, erwidert Any bierernst, „aber wenn das eine Anspielung auf die vermeintliche Unmöglichkeit deiner Mission ist, so unterschätzt du deine Fähigkeiten und beleidigst noch dazu meinen Intellekt und mein Urteilsvermögen. Ich würde dich nicht einsetzen, wenn du nicht nützlich wärst. Deine Erfolgswahrscheinlichkeit liegt aktuell bei schätzungsweise 71,24 Prozent.“

„Na, das ist doch mal gar nicht schlecht“, antworte ich.

„Nicht so gut, wie sie ein könnte, wenn wir eine Anpassung an deiner Bewaffnung vornehmen“, antwortet Any, „nimm deine Armwaffe ab und leg sie auf den Boden!“

Zuerst will ich widersprechen, aber wenn ich Any verärgern möchte, sollte ich mir wahrscheinlich einen lohnenderen Anlass dazu aussuchen. Außerdem kann ein Upgrade meiner Waffe ganz bestimmt nicht schaden. Also streife ich die Kompassnadel-Kanone aus Deovan ab und lege sie vor mich auf den Boden.

„Und jetzt?“, frage ich.

„Entspann dich und führe mit dem Pendel die Pendelbewegungen aus, die ich dir vorgebe. Denk dabei nicht nach. Du brauchst nur dein Kleinhirn, nicht deinen Verstand. Ich speise das Muster direkt in dein Muskelgedächtnis ein“, erläutert Any. Also entspanne ich mich so gut wie möglich und sehe erschrocken wie auch fasziniert dabei zu, wie sich meine Hand mit dem Pendel ganz von selbst in einer komplizierten aber unheimlich schnellen Folge von Dreh und Zick-Zack-Manövern bewegt. Kaum endet das Muster, löst sich ein weißes, fast transparentes Flimmern aus dem Pendel und Sekundenbruchteile später ist von der Armkanone, die mir Lavell nach meiner Wiedergeburt gegeben hat, nichts weiter übrig als ein Haufen höchstens daumengroßer Splitter.

„Verdammt, musste dass sein!“, beschwere ich mich nun doch und habe das Gefühl ein Stück meiner Geschichte und Identität vernichtet zu haben, selbst wenn die Waffe nur eine billige Kopie von der war, in der einst Karmon gewohnt hatte. Gut möglich, das Any genau das beabsichtigt hat.

„Diese Angriffe sind viel mächtiger als deine albernen Nadeln“, erklärt Any, „und die Reichweite ist groß. Die Energieschübe wirken so gut gegen Lebewesen wie gegen unbelebten Strukturen und haben keine Beschränkung, außer der Ermüdung deiner Muskeln. Aus diesem Grund solltest du sie lieber nicht im Dauerfeuer einsetzen, um keine Erschöpfung zu riskieren. Trotzdem ist es eine mächtige Waffe. Neben ein wenig Grips ist dein Pendel alles, was du brauchst, um erfolgreich zu sein.

Das mag vielleicht sein, denke ich bitter, aber es macht mich auch noch abhängiger von dir.

Da ich diesen Gedanken jedoch nicht laut aussprechen will, lasse ich mich stattdessen zu einem knappen „Danke“ hinreißen und füge noch hinzu: „Wie geht es Tarena? Und Andy? Hast du schon etwas von ihnen gehört? Haben sie den Start der Einheit gut überstanden?“

„Diese Auskunft werde ich dir nicht geben“, antwortet Any hart, „das ist überflüssig. Sieh selbst nach, wenn du willst. Ich habe dir doch die Möglichkeit eingeräumt.“

Und ehe ich mich versehe, folge ich dieser Empfehlung und kann nicht einmal sagen, ob ich das aus einem Antrieb tue oder nicht. Es passiert einfach. Ein Blinzeln, ein rascher Atemzug und ich fühle die klaustrophobische Enge der Kapsel in die Any meine Begleiter gezwungen hatte. Für einen Moment schwebe ich zwischen den beiden, wie ein körperloses Gespenst, dann werde ich eins mit Tarena, sehe alles aus ihren Augen und bleibe doch getrennt, wie ein unbemerkter Beobachter in ihrem Kopf.

~o~

„Alles in Ordnung, Andy?“, fragt Tarena in die enge, stickige Dunkelheit der „Einheit“ hinein.

„Ja, Mutter“, antwortet ihr Sohn, dessen Wasserkopf sie direkt an ihrem Gesicht spüren kann, „kein Adrian weit und breit und ich bin mit der schönsten Frau des Multiversums in einem Raum. Wie sollte es mir da nicht gut gehen.“

„Schleimer“, sagt Tarena lachend, die ernsthaft bemüht ist, nicht den Verstand zu verlieren. Sie mag mehr eine Krankheit sein als ein Lebewesen, wenn Any recht hat, aber das bedeutet nicht automatisch, dass sie keine grauenhafte Raumangst haben kann. Oder Angst zu ersticken.

„Ich spreche nur die Wahrheit aus“, sagt Andy, „und das betrifft beide Aussagen. Wobei ich zugeben muss, dass ich Any inzwischen deutlich mehr hasse als die Kopie meines Vaters. Sehr viel mehr sogar.“

„Das tue ich auch. Mit Adrian ist es kompliziert. Immer noch. Aber mit Any ist es einfach. Sie ist eine Bitch!“, antwortet Tarena.

Nun lachte auch Andy, was jedoch sofort in einen kurzen Hustenanfall mündete.

„Wir sollten besser so wenig reden und lachen wie möglich“, sagt Tarena, „bei einem so kaltherzigen Wesen wie Any kann man nicht ausschließen, dass sie den dafür nötigen Sauerstoff nicht einberechnet hat.“

„So dumm ist nicht mal sie“, widerspricht Andy, „sie mag ein Kontrollfreak sein, aber sie weiß auch, dass nicht jeder so tickt wie sie. Trotzdem hast du wahrscheinlich recht. Lass uns einfach hoffen, dass wir das hier schnell hinter uns bringen. Vielleicht sollten wir versuchen, ein wenig zu schlafen.“

„Ja“, sagt Tarena, auch wenn sie bezweifelt, ob ihr das gelingen kann, „dann schlaf schön, mein Schatz. Und solltest Du von Any träumen, gib ihr von mir gleich eine mit in ihre Rostvisage.“

Ihr Sohn reagiert mit einem zirpenden Lachen, aber als es verklingt, kehrt Stille kehrt in die Kapsel ein und nur ihr eigenes Atmen und das ihres Sohns ist noch zu hören. Denn die „Einheit“, wie Any sie lieblos genannt hat, bewegt sich vollkommen lautlos durch den Raum.

Tarena versucht wirklich zu schlafen, während die Sekunden zu Minuten und schließlich zu gefühlten Stunden werden, aber das Beste, was sie für einige Momente erreicht ist ein oberflächliches Wegdriften. Die meiste Zeit verfällt sie in ein zwanghaftes Grübeln, dass so viel mit Entspannung zu tun hat wie ein Hundert-Meter-Lauf. Bilder entstehen in ihrem Geist, aber es sind nicht die streichelnden, behaglichen Bilder eines Traums oder Tagtraums, sondern die quälenden Schatten der Erinnerung.

Ranziges Glück, verschimmelte Harmonie, verrottete Verbundenheit. Sie sieht sich und Adrian – den alten Adrian – in jener besonderen Höhle auf ihrer Heimatwelt. Wie zwei sorglose Wanderer sitzen sie dort, umgeben von Gefahren, doch so sicher wie noch nie in Tarenas gesamtem Leben als Jägerin.

Eine einfache Zeit. Eine Zeit von Geschichten, Sex und exotischer Verknalltheit, in der das größte Problem das anregende Studium der fremden Sprache war, deren Struktur sich ihr Schicht für Schicht geöffnet hatte und die nun so vertraut, so langweilig enträtselt ist. Doch zu dieser Zeit noch nicht. Da war jeder Tag noch voller Geheimnisse gewesen.

War genau das das Problem gewesen? Ihrer beide Ursünde? Dass sie diese Geheimnisse hatten lüften wollen? Dieses verdammte Fernweh, welches Adrian fortgezogen hatte … das sie beide unwiederbringlich verändert und sie zu einer Mörderin gemacht hatte. Hätte sie damals einen anderen Weg einschlagen sollen? Zurück in ihren Stock? Um Vergebung bitten für die Abtrünnigkeit von der Gemeinschaft? Um Gnade, und um das Recht, Adrian zu behalten als Vater für ihre neue Brut?

Das wäre Zwang gewesen, ja. Aber taten die Wesen in anderen Welten nicht andauernd so etwas und Schlimmeres? In Deovan war das so. Auch in Andraddon und gelegentlich sogar in Braviania, soweit sie wusste. Und sie hätte es nicht mit Gewalt getan, nicht wirklich. Sie wäre ihm eine Frau gewesen, eine wahre Mutter, Beschützerin und liebevolle Herrin. Er wäre glücklich gewesen an ihrer Seite. Irgendwann zumindest, im Laufe der Zeit. Und vor allem immer noch lebendig. Er wäre immer noch Teil dieser Version des Multiversums und nicht nur diese Kopie von ihm, die sie respektierte, sympathisch findet, aber nicht liebt.

Nein, denkt sie innerlich schmunzelnd. Es ist nie so einfach, oder? Sie war eine Kindermörderin gewesen damals und man hatte sie auch dafür gejagt. Für ein Verbrechen, für die es kaum Vergebung geben kann. Und Adrian zu versklaven, ihn zu einem Leben in ihrem Stock zu zwingen, wäre für ein Wesen wie ihn noch viel, viel grausamer gewesen als ihn zu töten.

Und auch die Vergangenheit war tot, mausetot. Denn selbst wenn Zeitreisen für Wesen wie Any eine Option waren und auch sie selbst sich in gewisser Weise auf einer solchen befand, wäre sie selbst dann nicht wieder dieselbe, wenn sie in diesen Moment zurückkehren könnte. Nicht mit all diesen Erinnerungen und Fäigkeiten, die sie geprägt und verändert haben. Nein, das Grübeln brachte ihr nichts. Sie musste sich auf das konzentrieren, was vor ihr lag. Auf Andy, auf ihre Mission und auf einen Weg, ihren Auftrag auf so zu erfüllen, dass das Multiversum nicht ins Chaos abgleitet und Anys verrostetes Uhrwerkherz trotzdem vor Wut über ihre gescheiterten Pläne zerspringt.

Der Gedanke daran, wie Any gleich einer kaputten, tollwütigen Spielzeugpuppe in ihrem Palast herumtaumelt, lässt sie nicht nur Lächeln, sondern sogar laut kichern. Ein Umstand, den sie sofort bereut, als sich dieses Kichern in einen hässlichen Hustenanfall verwandelt.

„Alles in Ordnung, Mutter?“, hört sie Andy besorgt fragen. Auch seine Stimme klingt etwas rau und belegt, wenn auch nicht sehr.

Tarena will antworten, aber sie bringt keinen Ton heraus. Als es ihr schließlich gelingt, klingt ihre Stimme, als hätte sie mit Nägeln gegurgelt. „Es … es geht schon“, lügt sie, um ihren Sohn zu beruhigen, „es ist nur die Luft … sie hat … Any hat uns wohl doch nicht genügend Sauerstoff mitgegeben.“

„Das ist nicht der Sauerstoff“, antwortet Andy ruhig, „spürst du es nicht? Diese Kälte in den Gliedern? Das Kratzen im Hals? Die Schwäche? Wir sind nicht am Ersticken, Mutter. Wir sind krank!“

„Krank, aber …“, beginnt Tarena mühsam aber jedes Wort fühlt sich an, als ob sie eine Faust voll Klingen hochwürgen müsste. Nur schlimmer.

„Wir müssen Hyronanyn bereits erreicht haben“, erwidert Any nüchtern, „und nun machen wir Bekanntschaft mit seiner Luftabwehr.“

„Das ist unmöglich … Any hat gesagt, dass …“, quält sich Tarena ein letztes Mal, bevor sie einen großen Klumpen aushustet. Ist es Blut? Schleim? Eiter? Gewebe? Sie weiß es nicht.

„Any hat gelogen“, sagt Andy röchelnd, „vielleicht gab es nie eine Mission und sie wollte uns einfach nur aus dem Weg haben. Warum, weiß ich nicht? Vielleicht aus Rache, vielleicht damit sie Adrian besser kontrollieren kann, wenn sie ihn glauben lassen kann, dass wir eine eigene Mission haben und sie auf unser Wohlergehen achtgibt. Keine Ahnung. Aber einst ist sicher, Mutter. Wir krepieren hier drin. Und zwar bald.“

Tarena hat selbst Angst, aber vor allem spürt sie Andys Panik wie einen eisigen Wind auf ihrer Haut. Das Rauschen seines Blutes, seinen Herzschlag, das rasche Klacken seiner Mandibeln. Jetzt muss sie eine Mutter sein. Jetzt muss sie ihm Halt geben.

„Ganz ruhig“, sagt sie röchelnd, „wir stehen das gemeinsam durch, okay? Wenn wir erst an der Oberfläche sind, könnten wir …“

Die restlichen Worte gelingen ihr nicht. Nicht nur wegen des grauenhaften Schmerzes in ihrem Hals, ihren Knochen und ihrem ganzen Gesicht, sondern auch weil sie keine Kontrolle mehr über ihre Gesichtsmuskeln hat. Sie spürt ein Spannen, dann ein Reißen. Dann registriert sie einen Luftzug in ihrem eigentlich geschlossenen Mund, gefolgt von einem Platschen und Klacken und dem Gefühl widerlicher Feuchtigkeit auf ihrer Hose. Selbst von Panik ergriffen tastet sie mit ihren Fingern nach ihrem Gesicht und greift direkt in ihre Mundhöhle rein, die nicht länger von einem Unterkiefer bedeckt wird. Sie will schreien, aber nicht nur brennt ihre Kehle wie Feuer, sondern auch ihre Zunge fehlt. Ihre verdammte, begabte, vielsprachige Zunge liegt irgendwo in der Dunkelheit herum und verfault.

Andy hat recht, denkt sie resigniert, wir sterben hier drin. Doch dann erinnert sie sich wieder. Wenn sie tatsächlich in Hyronanin sind, wird das wirklich so passieren? Oder werden sie nicht eher als bis zur Unkenntlichkeit zerfallene Leichen mit Bewusstsein den Rest einer nie endenden Ewigkeit fristen müssen?

Plötzlich vernimmt sie eine Stimme. Nicht die ihres Sohnes und auch nicht die von Any, sondern …


„Hallo Zungentochter“, begrüßt sie der Planetenkrebs und Tarena fragte sich, ob dies einfach nur seine übliche Begrüßung oder eine widerliche Anspielung auf ihren kürzlich erlittenen Verlust ist, „es ist lange her. Wie ist es dir ergangen?“

„Wenn das dein Sinn für Humor ist, verzichte ich gerne“, denkt sie.

„Mein Humor wandelt auf weit dunkleren Pfaden, wenn er sich denn zeigt“, antwortet Nollotsch, „aber das muss dich nicht kümmern. Ich mache mich nicht über deinen Schmerz lustig. Du und dein Freund Adrian haben mir schon genug davon zugefügt. Und dein Schweigen, deine Weigerung mich zu kontaktieren über all diese lange Zeit, haben es noch ungleich mehr. Ich weiß also, wie wenig erfreulich das ist. Und ich habe Mitleid mit meinem störrischen Kind. Mit meiner Tochter und meinem Enkel. Deshalb will ich euch helfen.“

„Und was willst du dafür?“, fragt Tarena obwohl es ihr vor Schmerz und Übelkeit kaum gelingt, sich auf das telepathische Gespräch zu konzentrieren.

„Oh das ist kein Handel, über den du entscheiden müsstest. Ich habe bereits alles von dir, was ich brauche. Ich liebe dich, Zungentochter. Wie ein Vater. Deshalb schenke ich dir dein Leben und deine Gesundheit aus freien Stücken. Dafür verlange ich rein gar nichts.“

Tarena verspürt wenig Anlass, dem Krebs zu vertrauen. Aber sie hält es auch für keine gute Idee, ihn zu verärgern. Gerade kann sie nicht wählerisch sein, was ihre Verbündeten angeht.

„Dann tu es, rette uns!“, denkt sie so energisch, dass es sich auch als unverständliches Röcheln in ihrem verwüsteten Körper zeigt.

„Das tue ich bereits“, hört sie die schmeichelnde Stimme, „meine Sporen sind bereits hier in dieser Kapsel. Sie werden euch heilen und beschützen, besser als es selbst reinste Gesundheit könnte.“

Tatsächlich bemerkt Tarena wie die Übelkeit nachlässt, das Spannungsgefühl in ihrer Haut, das Reißen in ihren Muskeln und der unglaubliche Kopfdruck. Dann spürt sie ein Kribbeln. Eine leichte und zärtliche Wärme in den Resten ihres Gesichts und dann ein sanftes Ziehen als sich ihre Zunge und ihr Kiefer einfach wieder neu bilden. In der Dunkelheit sieht sie es nicht genau. Aber sie spürt es so lebhaft, als könne sie jedes Detail davon erblicken.

„Wie ist das möglich Mutter, der Schmerz ist fort. Ich fühle mich nicht mehr krank. Überhaupt nicht mehr“, sagt ihr Sohn verwundert.

Doch Tarena antwortet ihm nicht. Noch nicht. Stattdessen wendet sie sich an Nollotsch. „Danke“, denkt sie, „aber ich spüre, dass es noch nicht vorbei ist. Irgendetwas willst du doch von uns? Du bist nicht selbstlos, Nollotsch. Das weiß ich. Egal wie schmeichelnd deine Worte sind.“

„Niemand von uns ist selbstlos und niemand sollte es sein. Sich um andere zu kümmern ist edel. Aber Selbstvergessenheit ist nichts Gutes“, flüstert der Planetenkrebs, „es kommt auf die Ausgewogenheit an. Deshalb verlange ich nichts für die Rettung deines Lebens. Aber in einer anderen Gelegenheit kannst du mir gerne helfen. Any hat dich in ihren Fängen. Ich sehe ihre Fesseln an dir, tiefer und subtiler als selbst unsere Bande. Ich würde sie gerne lösen. Aber mein Einfluss ist begrenzt. Im freien Raum kann ich dich erreichen, wenn ich mich strecke. Über die Verästlungen des Geflechts, über Ritze und Spalten, mikroskopisch klein.

Aber an den Orten, zu denen sie dich schickt, ist mir das nicht möglich. Ich brauche dort einen Anker. Eine erblühende Spore, damit ich mit dir sprechen und nach Belieben handeln kann. Du trägst diese Sporen in dir, in deinem Speichel. Und Andy auch. Sie können euch beschützen, in ihrer jetzigen Form. Aber sie können noch mehr für euch leisten, wenn sie erblühen. Alles, was du dafür tun muaar, ist zu graben und deine Spucke tief zu pflanzen, in die Erde einer Welt. Dann kann ich euch wirklich erreichen und vielleicht sogar einen Weg finden, euch für immer von Any zu lösen.“

„Ich soll für dich andere Welten verseuchen?“, fragt Any empört, „sie und ihre Bewohner einfach einem Planetenkrebs ausliefern?“

„So einfach ist das nicht. Es braucht ein eigenes Bewusstsein, damit ein echter Planetenkrebs entstehen kann. Diese kleine Spore allein genügt dafür nicht. Sie bereitet den Boden, macht ihn fruchtbar, das will ich eingestehen. Aber es lässt noch nichts wachsen, das eigenes Bewusstsein hätte und das braucht es für wirkliche Kontrolle über eine Welt und ihre Bewohner.“, erklärt Nollotsch.

„Ernsthaft, das soll ich dir glauben?“, fragt Tarena, „und selbst wenn du recht hast, wäre auch das schon schlimm genug.“

„Ich lüge nicht, so wie ich dich nicht zwinge“, sagt Nollotsch, „aber bei aller Liebe, Zungentochter: wir sind eine Gemeinschaft und als solche wollen wir expandieren. Das ist unsere Natur. Du hast dieses Schicksal nicht gewählt, das will ich eingestehen. Aber wir sind, wer wir sind. Und wir müssen wachsen, wenn wir weiterleben wollen. Wenn ich vergehe, vergehst auch du. Das ist keine Drohung, sondern leider ein Fakt. Ich will nicht die Herrschaft über alles, ich will nur bestehen können, gegen all die anderen meiner Art, von denen manche viel viel schlimmer sind als ich, das kann ich dir versichern. Es wäre nur eine kleine Geste der Loyalität und wir würden beide davon profitieren und an Freiheit gewinnen. Das ist doch wertvoll, oder nicht?“

Tarena denkt nach. Sie sieht die Falle hinter dem Köder. Sieht sie ganz genau und ob Nollotschs Behauptung, dass ihr Überleben an seines geknüpft ist, wirklich stimmt, bleibt ebenfalls fraglich. Doch eines steht leider außer Frage: nämlich, dass ihr Pakt mit Any genauso viel Unheil für sie und alle ihre Mitgeschöpfe bedeuten kann, wenn nicht sogar noch mehr. Vielleicht kommt es darauf an, all diese mächtigen Arschlöcher geschickt gegeneinander auszuspielen und auf die richtige Art zu nutzen.

„Ich werde es in Erwägung ziehen“, antwortet Tarena vorsichtig, „ich muss also nur graben und in die Erde spucken, ja?“

„So ist es. Grabe etwa einen halben Meter tief. Das genügt für gewöhnlich. Dann kann sich die Spore verwurzeln und Kontakt zum Geflecht herstellen“, sagt Nollotsch, „doch es kann auch passieren, dass ein Planet bereits einem anderen meiner Art gehört. Dann musst du womöglich verhandeln. Aber das bekommst du hin. Immerhin bist du doch eine Diplomatin, Zungentochter und eine Kreatur von herausragender Intelligenz.“

„Danke für die Blumen. Aber um zu verhandeln, muss ich etwas anbieten können, oder? Was könnte das sein?“, fragt Tarena irritiert.

„Das erfährst du von mir, wenn es so weit ist“, sagt Nollotsch, „bis dahin wünsche ich dir viel Glück und begleite dich, so lange und so gut ich es kann.“

„Sehr liebenswürdig“, denkt Tarena doch sie spürt schon, dass Nollotsch ihre Worte nicht mehr hört. Er hat sich vorerst zurückgezogen, an den Rand ihrer Wahrnehmung.

„Hey, Mutter, was ist mit dir los! Bist du immer noch krank?!“, hört sie Andy rufen und erkennt an seinem alarmierten Tonfall, dass es sicher nicht sein erster Ruf dieser Art ist.

„Mir geht es wieder gut, Andy“, antwortet Tarena, „nun, wobei, das ist relativ, aber zumindest ist die Krankheit weg.“

„Das ist wunderbar“, sagt Andy erleichtert, „aber wie ist das möglich? Wie kann so eine plötzlich Heilung geschehen?“

„Nollotsch“, sagt Tarena, „er hat uns geholfen, genau wie Any es vorausgesehen hat.“

„Was hast du ihm dafür gegeben?“, fragt Andy.

„Noch nichts“, erwidert Tarena, „unsere Heilung war sein Geschenk. Er will seine Diener bei guter Gesundheit halten, schätze ich. Aber einen Handel will er dennoch. Nur habe ich ihm dazu noch nicht geantwortet. Aber das können wir später besprechen. Ich glaube, wir sollten jeden Moment landen. Das habe ich irgendwie im Gefühl.“

Tarenas Gefühl trügt sie nicht, denn bereits einige Augenblicke später setzt die Kapsel mit einem abrupten Ruck auf und öffnet sich sofort wie ein in der Mitte geteiltes, pyramidenförmiges Ei. Staubige, dunstige Luft, nicht minder gefährlich und keimgesättigt als die im Untergrund, doch wahrscheinlich mit weniger lebenserhaltenden Eigenschaften, strömt auf sie ein. Sie enthält Sauerstoff genug, um zu atmen und ist nach der grauenhaften, klaustrophobischen Reise und der dicken, stickigen Luft in der Kapsel in gewisser Weise eine Wohltat. Dennoch fühlt sie sich in Tarenas Lungen ekelhaft, verboten und gefährlich an. So als würde sie nur darauf warten, den von Nollotsch gewährten Schutz zu überwinden und sie genauso krankzumachen wie alles auf und in diesem verfluchten Planeten.

„Komm“, sagt Tarena zu Andy, „lass uns dieses beschissene Gefängnis endlich verlassen. Wenn Any recht hat, werden wir uns früh genug darin wiederfinden.“

„Alles klar, Mutter“, sagte Andy, der sich erstaunlich behände aus seiner liegenden Position erhebt, während Tarena sich eher fühlt, als hätte sie einige Tage in einer extrem ungesunden Haltung am Schreibtisch gesessen.

„Wohin jetzt?“, fragt Andy, „ich sehe hier nirgends einen Zugang zu den Seuchenhöhlen. Sollte Anys Kapsel uns nicht eigentlich an einem Ort abgesetzt haben, wo wir möglichst nah am Abstieg sind? Immerhin wäre das doch ihrer Mission dienlich.“

„Das sehe ich genauso“, sagt Tarena, „deshalb muss der Eingang hier irgendwo in der Nähe sein. Wir finden ihn schon. Wir müssen nur unsere Augen offenhalten.“

„Ich hoffe, du hast recht“, entgegnet Andy, „so langsam geht mir diese Scheiße wirklich auf die Nerven. Schlimm genug, dass wir ihre Sklaven sind, aber wenn Sklaven etwas verdient haben, dann doch wohl zumindest klare Anweisungen.“

„Nein, so funktioniert das in einem Schwarm, wie ihn unser Vorfahren hatten“, erwidert Tarena, „dort hat jeder seine klare Position und Aufgabe. Dort gibt es keine Fehler, keine Zweifel und keine Strafen. Sklaverei hingegen zeichnet sich gerade durch Unsicherheit aus. Denn ein Sklavenhalter will keine Diener, die zuverlässig ihren Aufgaben nachkommen. Unsicherheit ist sein eigentliches Machtinstrument, seine stille, sadistische Freude. Er will, dass seine Diener Fehler machen können, ja Fehler machen müssen, damit sie nie zur Ruhe kommen, damit sie keinen Frieden finden können, nicht einmal in der Unterwerfung. Er will, dass sich ihr Denken allein um ihn dreht, um seine verborgenen Absichten, seine volatilen, obskuren, unausgesprochenen Gesetze. Und er will, dass sie zögern, hadern, zu lange brauchen und fast scheitern. Er will das, damit er strafen und tadeln kann. Denn nur dann spürt er seine Macht. Ich denke, auch Any denkt so. Egal wie ideologisch sie sich gibt und wie oft sie von Zahnrädern und Uhrwerken schwadroniert.“

„Also will sie, dass wir scheitern?“, fragt Andy.

„Nein, aber wir sollen es immer für möglich halten und wir sollen uns stets beschissen, machtlos und unfähig fühlen“, antwortet Tarena.

„Das kann sie vergessen. Ich weiß, was ich wert bin“, sagt Andy trotzig.

Tarena lächelt. „Das weiß ich auch und wie ich das weiß“, sagt sie, „und das ist genau die richtige Einstellung. Wir lassen uns nicht auf ihre Spielchen ein. Wir werden den Eingang finden und wir werden Erfolg haben mit … nun was auch immer wir tun werden. Doch nun lass uns erst mal die Beine vertreten.“

Tarena und Andy gehen ein paar Schritte über die Oberfläche von Hyronanin und sehen sich genauer um. Die Welt um sie herum ist beinah eine Wüste. Doch ihr fehlte die wilde, exotische Romantik bravianischer Sandebenen und selbst die profane Einfachheit der Wüsten auf der Erde. Es ist mehr ein Brachland, mit von Staub und Zeit angefressenen Gebäuderuinen. Traurigen Hinterlassenschaften der Sanisa, die, überwuchert von Moos und Flechten, genauso verfallen, wie die Erinnerung an deren verratenen Werte von Mitgefühl und medizinischer Ethik. Ja, es gibt Moose hier. Denn ein weiterer Unterschied zur klassischen Wüste ist, dass es auf der Oberfläche von Hyronanin nicht trocken ist. Die Luft ist feucht. Nicht wie in einem Dschungel, aber wie in einem ganz gewöhnlichen, gemäßigten Klima. Auch der sandige Boden ist nicht gänzlich trocken und die Lufttemperatur mag bei vielleicht dreiundzwanzig Grad liegen. Denn nicht Trockenheit oder Hitze sind der Fluch dieser Landschaft, sondern ihr Übermaß an Keimen und Krankheitserregern. Sie sind es, die den Boden für das meiste Leben unbrauchbar gemacht haben. Trotzdem gibt es hier ein paar Pflanzen. Jene Moose eben, aber auch verstreute, kümmerliche, drahtige Gewächse, die wie gekrümmte Greise ihre verschrumpelten und von Blasen übersäten, aber nicht gänzlich abgestorbenen Blätter in die Luft recken.

„Meinst du, sie leben trotz oder wegen der Krankheitserreger?“, fragt sich Andy laut, während er eine der Pflanzen näher betrachtet, sorgsam darauf bedacht, nicht mit ihr in Kontakt zu kommen.

„Ich denke, beides ist möglich. Es könnten Bakterien- oder Pilzkolonien sein, die diese Form gewählt haben, jedoch würden sie dann wohl nicht so kränklich aussehen. Ich schätze eher, sie saugen die Unsterblichkeitssubstanz aus dem Untergrund mit den Wurzeln auf, was sie vom endgültigen Tod abhält. Die unteren Blätter sind ja auch gesünder als die oberen. Womöglich gelangt die Substanz nicht in die feinen Ausläufer der Blattadern oder sie ist zu verdünnt“, spekuliert Tarena.

„Klingt logisch“, sagt Andy, „irgendwie tun sie mir leid. Es muss eine grauenhafte Existenz sein. Fast glaube ich, sie schreien zu hören.“

„Das glaubst du nicht nur“, sagt Tarena als sie genauer hinhört, „da ist tatsächlich so ein schrilles Geräusch in der Luft. Ganz leise, aber hörbar, zumindest für mich. Ich denke, sie warnen einander vor einer Gefahr. Pflanzen auf anderen Welten tun das auch. Nur gibt es hier kein Mittel gegen diese Gefahr, gegen die Krankheit und die Fäulnis in der Luft. Deshalb schreien sie ohne Unterlass.“

„Grauenhaft“, sagt Andy, „ich möchte mir gar nicht ausmalen, wie es erst den Lebewesen im Untergrund ergeht.“

„Wir werden es bald erfahren“, sagt Tarena, „sobald wir den Eingang gefunden haben. Ich weiß es nicht genau, aber ich vermute, dass er dort bei diesen zerfallenen Gebäuden sein muss. Es handelt sich ja sicher nicht um irgendein Erdloch, sondern um einen bewusst angelegten Zugang. Da ergibt es Sinn, ihn in der Nähe einer Stadt zu errichten.“

„Nicht unbedingt“, widerspricht Andy, „gerade wenn man sich vor Angreifern verbergen will, würde man so eine Zuflucht doch eher weit entfernt von jeder Siedlung errichten.“

„Das ein guter Punkt. Aber die Bauten sind nicht weit weg, also probieren wir es zumindest aus“, antwortet Tarena, „immerhin reden wir ja auch nicht von einer versprengten Guerilla-Truppe, sondern von einem ganzen Volk, das in den Untergrund gewandert ist. Und einen anderen Anhaltspunkt als diesen haben wir ohnehin nicht.“

Andy nickt zustimmend und so lenken sie ihre Schritte in Richtung der Ruinen der Heilzentren und ehemaligen Wohnhäuser der Sanisa, die heute als Gesunder ihre Schreckensherrschaft in den Seuchenhöhlen ausüben.

Schon bald ragen die Gebäude gut sichtbar vor ihnen auf und das Sonnenlicht fällt so widerwillig und träge auf die verwahrlosten Ruinen, als würde selbst das Gestirn dieser Welt den alten Zeiten nachtrauern, in denen man hier noch anderen geholfen hatte, statt sie auszubeuten.

Zeiten, von denen der Stern sicher viel mitbekommen hat, denn das ehemalige Heilzentrum scheint einst fast ganz aus Glas bestanden zu haben, das nun von den Moosen und Flechten überzogen ist, aber immer noch hier und da durchscheint.

Auch der Eingang ist gänzlich zugewuchert, so als hätten die Pflanzen die Absicht gehabt, die Erinnerungen an diesen Ort, all die Geister und Schemen früherer Zeiten darin zu versiegeln. Das Gelände rund um das Heilzentrum gleicht einem Schrottplatz. Metallbetten, Überreste medizinischer Geräte, zerstörte Computer, Spritzen, Flaschen und fast verrottete Stofffetzen liegen überall herum, was ihre Suche nicht gerade erleichtert.

„Merkst du das auch?“, fragt Andy plötzlich.

„Was soll ich merken?“, erkundigt sich Tarena.

„Die Kälte. Und den Wind“, antwortet Andy.

Erst weiß Tarena nicht, wovon ihr Sohn spricht, aber dann registriert sie es ebenfalls. Die bislang stillstehende Luft ist Bewegung geraten und bläst die Wärme von ihren Körpern fort. Es ist immer noch nicht eisig, eher herbstlich, aber dennoch … unangenehm. Auf der Suche nach der Ursache für den Temperaturabfall gleitet Tarenas Blick wie ferngesteuert zum Himmel und …

„Mein Gott!“, sagt sie und wird dabei stocksteif als sie das apokalyptische Schauspiel über ihnen verfolgt. Der bislang eher diesig gelbe Himmel mit seinen faserigen, rötlichen Schleierwolken, ist violett geworden. Doch nicht gänzlich. Stattdessen ist aus dem Nichts eine riesige Wolkenfront herangewachsen … nein, keine Wolkenfront, eher eine Art verformter, staubiger Hurrikan aus matt-violetten-Partikeln, der sich direkt auf sie zubewegt. Und zwar nicht wie ein nahes Wetterphänomen, sondern wie etwas bewusst agierendes, das Witterung aufgenommen hat. Wie ein intelligentes, formloses Raubtier. Oder ein Schwarm.

„Lauf!“, schreit Tarena ganz automatisch, auch wenn sie weiß, dass sie das ihrem Sohn eigentlich nicht erst sagen muss und setzt sich selbst in Bewegung, immer einen Blick über die Schulter werfend auf das Ding, das bereits in diesen paar Sekunden ein merkliches Stück näher gekommen ist.

„Das ist nichts Natürliches, oder?“, fragt ihr Sohn atemlos, „Irgendeine Waffe vielleicht, um Eindringlinge abzuwehren? Ein Gift? Oder Säure?“

„Eine Waffe sicher“, antwortet Tarena, „aber wohl eher eine Biowaffe, wenn man bedenkt, wo wir uns befinden.“

„Na großartig“, sagt Andy, „wir müssen Deckung suchen. Sofort. Das Heilzentrum fällt natürlich aus. Das bietet niemals den nötigen Schutz. Aber vielleicht hat es einen Keller.“

„Wenn wir den finden können, könnte diese Wolke da auch reingelangen. Und wenn nicht, sind wir

ohnehin gefickt. Die Seuchenhöhlen sind unsere einzige Chance, auch wenn ich nie gedacht hätte, dass ich oder irgendein Lebewesen diesen Satz einmal sagen würde“, sagt Tarena und kann sich ein verzweifeltes Lachen nicht verkneifen.

„Das mag sein, aber wir finden diese verdammten Grotten leider nicht!“, flucht Andy.

„Keine Panik“, sagt Tarena, „wir sind keine normalen Lebewesen. Was auch immer das ist, wird mit uns kein leichtes Spiel haben. Wir stehen unter Nollotschs Schutz, schon vergessen?“

„Willst du es darauf ankommen lassen?“, fragt Andy, „vertraust du dem Planetenkrebs so sehr?“

„Nein, das tue ich nicht, aber … ach man … lass mich nur einen Moment nachdenken …“, sagt Tarena nervös, während sie fieberhaft den Untergrund absucht nach einer Luke, einer Falltür oder irgendetwas vergleichbaren. Doch da ist nur Schutt und verseuchte Erde.

Tarena will nachdenken, über irgendeine Lösung, irgendeinen Plan. Doch das Denken fällt ihr schwer, verdammt schwer, während sie plötzlich ein stimmloses Jaulen vernimmt, weit lauter als das der Pflanzen, und sich ein leichter Pilzgeruch in ihre Nase schleicht. Sie traut sich kaum, sich umzudrehen, aber tut es dennoch. Die Wolke ist nun keine fünfzig Meter mehr über ihnen, drohend und fast alles Licht verschlingend, und sie beginnt zu Husten, während sie mühevoll weiter vorwärts stolpert.

„Schneller!“, ruft Tarena panisch und merkt dabei wie ihre eigene Kraft nachlässt. Wie sie immer heftiger hustet und sich unfassbar elend fühlt. Schlimmer noch als in der Kapsel.

„Ich kann nicht schneller!“, hört sie ihren Sohn rufen. Nein, er ruft nicht, es ist mehr ein Jammern und Klagen, so erbärmlich, das ihr Mutterherz zerspringen will.

„Ich … ich hab keine Kraft mehr“, sagt Andy zitternd. Und die hat auch Tarena nicht mehr. Trotzdem geht sie noch ein paar Schritte, schafft es ihren Sohn zu erreichen und schließt ihn erschöpft in die Arme. Dann dreht sie sich um und blickt direkt in die Wolke, die nun so nah ist wie ein giftiger Kuss.

Der Schmerz, als ihre Augen sich in Klumpen aus Entzündungsgewebe verwandeln und ihre Lungen verschrumpeln, ist dabei nicht halb so schlimm wie jenes Gefühl, das sie empfindet als ihre von einem Heer aus Mikroben und Pilzen überschwemmte Haut in sekundenschnelle verfault.

Doch bewusst zu erleben, wie ihre Muskeln zerfallen und alles an Chitin und Knochen aus ihrem Körper zu einem braunen Schleim kollabiert, während ihre Nerven und ihr Gehirn bis zuletzt intakt bleiben, ist wohl von nichts auf dieser Welt zu übertreffen.

Als die Wolke sich verzogen hat, wirken die Ruinen des Heilzentrums fast schon idyllisch. Doch von Andy oder Tarena ist keine einzige Spur mehr zu sehen.

~o~

„Nein, das kann nicht sein“, sage ich entsetzt und kann tatsächlich noch immer nicht fassen, dass Andy und Tarena tot sein sollen. Ich habe die beiden nicht lange gekannt und man kann darüber diskutieren, ob wir überhaupt Freunde gewesen waren, aber immerhin waren wir in gewisser Weise Verbündete und Leidensgenossen gewesen. Vereint unter dem Los, an Anys Faden zu hängen. Für mich ist es traurig und entmutigend. Aber noch viel heftiger spüre ich die Bedeutung, die sinnentleerende Schwere, die dieser Verlust für mein anderes Ich haben würde, sollte es je von dieser Tragödie erfahren. Und allein diese Vorstellung macht die Wucht dieser grauenhaften Nachbilder auch für mich viel greifbarer. Tarena und Andy waren nicht meine Familie gewesen, aber irgendwie waren sie es doch und … zum Teufel … ich hatte ihren Tod quasi mit eigenen Augen mitangesehen in allen grausigen Details. Das kann kein fühlendes Wesen ignorieren. Und die Macht dieser Gefühle passt wunderbar zu diesem deprimierenden Ort und legt sich wie ein lähmender Schleier über mich.

„Das kann nicht sein, oder? Sie können nicht tot sein“, wiederhole ich hilflos, diesmal direkt an Any gerichtet, doch die Vibration in meiner Hand hat nun aufgehört und die Worte dringen wieder wie gewohnt als profane Lautäußerungen aus meinem Mund. Offenbar hat Any mir alles gesagt, was sie mir zu diesem Zeitpunkt hatte sagen wollen und wenn sie das Schicksal der beiden überhaupt verfolgt hat, ist es ihr wohl herzlich egal.

„Fuck, Fuck, FUCK!!!“, schreie ich, auf jegliche Heimlichkeit scheißend. Ja fast wünsche ich mir sogar, entdeckt zu werden. Einfach, um nicht mit der Last dieser grauenhaften Trauer und Ratlosigkeit allein zu sein, sondern irgendein äußeres Ereignis zu erleben, das mich zum Handeln, statt zum Denken zwingt.

Und mein Wunsch wird erhört. Denn plötzlich vernehme ich einen leisen, erstickten Schrei und ein zwar fernes aber zugleich viel zu nahes Schaben und Knarren.

Doch nun, wo das ersehnte Ereignis tatsächlich da ist, habe ich plötzlich keine Lust mehr zu handeln. Nicht nur, weil es mir unwirklich erscheint, sondern auch, weil ich wieder den nicht unerheblichen Drang verspüre, mich einfach wieder in die weiche Erde einzugraben. Dort, wo ich einst ohnehin liegen werde. Dort, wo meine Eltern irgendwann liegen werden, ohne mich noch einmal gesehen zu haben. Dort, wo auch die Überreste von Any und Tarena jetzt gerade liegen, auf der eitrigen Planetenkruste der unseligen Seuchenhöhlen. Doch der Schrei erklingt erneut, diesmal lauter und ich erinnere mich daran, dass mich das Los der Lebenden immer noch etwas mehr berührt als das der Toten. Irgendein winziger Funke Anstand und Mitgefühl scheint noch in mir überlebt zu haben.

Rasch kämpfe ich mich hoch, schüttele die krümelige Erde ab und spucke sie aus, zusammen mit dem Staub, der sich in meine Lungen gelegt hat. Ich packe mein Pendel fester, haste durch die Reihen der Grabsteine und Gruften und suche nach der Quelle des Rufs und des Schabens. Zum Glück legt mir das melancholische Nachmittagslicht dabei keine sonderlich hohe Hürde in den Weg. Irgendwo in der Ferne sehe ich etwas wuseln. Ein halbes dutzend langgezogener Gestalten, auf vier Beinen, die aus der Entfernung an weiß gestreifte, gedrungene Pferde erinnern und sich um irgendetwas – oder irgendwen – versammeln. Sollte ich auf dieser morbiden Welt ausgerechnet an fleischfressende Zebras geraten? Der Gedanke lässt mich innerlich kichern, aber das Lächeln verrottet auf meinen Lippen als ich die Distanz verringere und endlich nah genug bin, um die Wesen genauer in Augenschein zu nehmen.

Das sind keine Pferde. Auch keine Zebras. Es sind seltsame Mischungen aus Schnecken, Krebsen und Würmern. Sie haben pechschwarze, schleimige Haut und dicke, harte Beine. Ihre langen Körper besitzen keine richtigen Köpfe, aber ein Ende mit zwei weißen Knopfaugen und einem runden Mund mit spitzen Zahnreinen und kurzen, feuchten Fleischausstülpungen wie nach außen gewuchertes Zahnfleisch. Außerdem verfügen sie über lange, dicke Schwänze, mit denen sie ihr Gleichgewicht zu wahren scheinen.

Das Bemerkenswerte an ihnen ist aber das, was ihnen die vermeintlichen weißen Streifen verleiht. Es sind menschliche oder wenigstens menschenähnliche Skelette. Ohne den Kopf zwar, aber ansonsten vollständig. Diese Skelette sind mit dem Fleisch der Kreaturen verwachsen, wobei der Brustkorb sie umgibt wie ein Schneckenhaus einen Einsiedlerkrebs und die restlichen Knochen wie Panzerplatten in ihrem weichen Fleisch stecken. Zwei der Kreaturen, deren aneinanderreibende Panzer wohl das „Schaben“ ausgelöst haben, haben sich zu mir umgewandt. Die Mäuler geöffnet, die kleinen Augen geweitet und ihre Zahnfleischlippen in einer Art Drohgeste in Schwingung versetzt. Die anderen vier tun sich an einer jungen Frau gütlich, die offenbar noch lebt. Aber ihre Arme sind bereits mit Blut, Wunden und Verdauungssaft bedeckt, wenn auch noch größtenteils intakt.

Offenbar lassen die Kreaturen sich Zeit beim Fressen. So als würden sie ahnen oder sogar wissen, dass die Frau sich nicht wehren wird und nicht einmal versuchen wird zu fliehen. Dabei ist sie nicht gefesselt und liegt einfach nur auf einer weißen Grabplatte, die Arme und Beine von sich gestreckt, an denen die Biester lutschen und kauen wie an einem Buffet. Es muss höllisch wehtun. Doch die Frau macht nicht einmal den reflexhaften Versuch, ihre Gliedmaßen zurückzuziehen. Vermutlich die Wirkung einer Droge oder eines lähmenden Gifts, das ihr die Biester oder sonst wer injiziert hat. Ihre Muskeln sind wahrscheinlich vollkommen außer Gefecht gesetzt. Trotzdem scheint sie einigermaßen bei Bewusstsein. Ihre rosafarbenen Augen sind etwas vernebelt, aber offen und wach und der Schmerz darin ist nicht zu leugnen. Genau wie die kurzen, stakkatohaften und immer schwächer werdenden Schreie, die aus ihrem Mund dringen.

Zwei Dinge werden mir klar als ich all das sehe. Erstens: Die Frau ist ein bewusst dargebrachtes Opfer, keine Spaziergängerin die einfach nur Pech hatte. Zweitens: Sie ist kein Mensch, auch wenn sie einem solchen sehr ähnlich sieht. Ihre Haut aber ist blass und leicht gelblich. Ihr Schädel etwas kantig und ihre Gestalt auf eine Art hager, die mir sagt, dass das bei ihrer Spezies nichts Ungewöhnliches ist. Ihre Haare sind zu einem gräulich-silbernen Zopf geflochten.

Ich vermute natürlich, dass es sich um eine Luth Nomorerin handelt, doch welchem Volk sie angehört, ist mir genauso scheißegal wie der verquere Glaube, der sie allem Anschein nach in diese Situation gebracht hat, sei es durch den Fanatismus anderer oder auf eigenen irregeleiteten Wunsch. Denn eines ist eindeutig: Selbst wenn sie sich in der Sicherheit irgendeines Tempels noch freiwillig als Buffet gemeldet haben sollte und das als wunderbares Opfer an die Götter und heilige Ehre empfunden haben sollte, ist sie inzwischen zu einem ganz anderen Schluss gekommen. Das zeigen nicht nur ihre Schreie, sondern auch ihr gequälter, panischer Blick. Und wenn ich etwas damals in Uranor gelernt habe, dann, das Kulte höchstens einmal um Erlaubnis fragen. Danach fragen sie nur noch nach Gehorsam.

Überraschenderweise hat sich die Neugier der gierigen Skelett-Lutscher auf mich wieder gänzlich gelegt. Sie beachten mich nicht länger und wenden sich wieder ihrer gelähmten und viel leichter zu erreichenden Beute zu.

„Hier spielt die Musik!“, rufe ich den hungrigen Knochenponys zu und schwinge mein Pendel in der mir von Any vermittelten Weise. Als eine Welle von Energie einem der Kreaturen den Kopf spaltet und dabei dann doch einen zersplitterten, kantigen, humanoiden Schädel freilegt, in dem ein zerstörtes, grünliches Gehirn schwimmt, habe ich die gewünschte Aufmerksamkeit. Und leider sogar mehr davon, als ich gebrauchen kann. Haben die Kreaturen gerade noch entspannt und fast träge gewirkt, erweisen sie sich nun als verdammt flink. Noch während ich mein Pendel ein weiteres Mal in Bewegung versetze, preschen drei von ihnen mit raubkatzenhafter Geschwindigkeit an mir vorbei und entgehen dem tödlichen Energieschub meines Pendels mit Leichtigkeit.

Ich setze dazu an, mich zu ihnen umzudrehen, aber während zumindest eine der Kreaturen sich nicht von ihrem Mahl weglocken lässt, krümmt die letzte von ihnen die Hinterbeine und springt direkt auf mein Gesicht zu, das Maul weit geöffnet. Mir bleibt also nichts anderes übrig, als mich zu verteidigen. Und auch wenn die Entladung des Pendels diesmal nicht den Kopf des Angreifers erwischt, gelingt es mir doch die Vorderläufe, einen Teil des Knochenpanzers und den Hinterleib der Kreatur abzuschneiden.

Statt mich zu fressen oder zu zerquetschen, ändert das verletze Wesen noch im Flug die Richtung und kommt als elender Haufen Fleisch knapp vor mir auf dem Boden auf. Doch sein eigentliches Ziel, mich abzulenken, hat es dennoch erfüllt. Schon spüre ich, wie sich zwei lange, dünne Schwänze um meine Fußgelenke wickeln und mir die Beine wie auf einer Streckbank auseinanderziehen. Ich verliere das Gleichgewicht und versuche panisch, die Schlingen loszuwerden oder mich wenigstens umzudrehen um das Pendel einsetzen zu können. Doch meine kläglichen Versuche enden, als ich ein riesiges Gewicht auf meinem Rücken spüre und das Knarzen und Ächzen von Knochen höre.

Nicht vom Exoskelett des Wesens, das auf mich geklettert ist, sondern aus meinem eigenen Rückgrat, das unter dem massiven Gewicht zu brechen droht.

Bevor das geschehen kann, gebe ich nach und lasse mich fallen. Wieder lande ich in der einladenden Graberde. Nur diesmal mit dem Kopf voraus. Ich schlucke sie, atme sie ein und versuche hustend das Ding abzuschütteln, während ich bemerke, wie es seine Zähne in das Fleisch meines Rückens schlägt. Ich warte auf Taubheit, auf Lähmung, ähnlich wie sie die arme Frau, auf dem Opferaltar erwischt haben. Doch beides kommt nicht. Ich spüre immer noch die nadelscharfen Schmerzen und das weiche, widerliche Zahnfleisch und kann meine Arme immer noch bewegen. Doch das nützt mir wenig. Ich bin nicht stark genug. Ich bin einfach nicht stark genug, um das Ding loszuwerden. Plötzlich zuckt und windet sich das Wesen auf meinem Rücken, so als würde es sich eine bequemere Position zum Fressen schaffen und ich sinke noch tiefer in die Erde ein. Wieder ein Hustenanfall. Kräftiger, rauer, wie ein letztes sinnloses Aufbäumen meines Körpers, bevor …

„Hartralleeeeemmm!!“, schreie ich in einem wilden barbarischen gutturalen Ton, wie er noch nie zuvor meine Kehle verlassen hat und mit diesem Schrei kommen fremde Bilder einer feuchten, düsteren, aber doch vor Leben brummenden Dschungellandschaft, von Blut und Gemetzel und in mich hinein sickert eine Kraft, wie ich sie nicht einmal zu Karmons Zeiten gekannt hatte. Ohne Rücksicht auf meine Muskeln drehe ich mich um, rotiere wie die Klingen eines Rasenmähers und werfe das Geschöpf, das sich auf meinen Rücken gesetzt hat, mit Leichtigkeit von mir fort. Ich fühle mich stark und beinah unbesiegbar, bis … ich ein Gesicht sehe. Weiblich, aber so rau und kriegerisch wie meines und dennoch will ich dahinsinken, entspannen, die Waffen niederlegen ….

Mit einem inneren Ruck und einem heftigen Räuspern hole ich mir die Kontrolle zurück, ergreife mein Pendel und lasse die Entladungen in kurzer Folge auf die verdutzten Leichenschänder-Pferde niedergehen. Knochen explodieren, schwarzes Fleisch zerfällt und das letzte Tier, das sich gierig dem wehrlosen Opfer widmet, bekommt nicht einmal mit, wie ich ihm den Schädel mit reiner Energie durchstanze. Alles was bleibt, ist Stille und ein widerlicher Geruch wie nach verdorbener Lakritze. Seltsamerweise fühle ich mich schuldig. Ja, es ist absurd, aber ich verspüre plötzlich Mitleid mit diesen Kreaturen, die ich gerade getötet habe. Stammt es von mir, oder von dieser fremden Seele, die beunruhigenderweise für einen Moment von mir Besitz ergriffen hatte, wie auch immer dies möglich gewesen war? Nein, denke ich, dieser Mann hat viele getötet und sein Mitgefühl galt lediglich einer Person. Eine Liebe zu einer Unbekannten, die er mir hinterlassen hat wie ein Graffiti auf meiner Seele, das hoffentlich bald verblassen wird. Ich glaube, die Empathie gegenüber meinen Feinden kommt eher daher, dass sie keine Monster gewesen waren. Sie waren nicht aggressiv. Lediglich hungrig. Die wahren Monster sind die, die diese Frau hier hilflos zurückgelassen und vergiftet haben, denn das das nicht das Werk dieser Einsiedler-Geschöpfe war, weiß ich jetzt.

Ich gehe zu der betäubten und verletzten Frau. Sie lebt und atmet noch immer. Ihre Hände sehen aus wie ein Haufen Schleim, den jemand über einen Handknochen gegossen hat. Aber ihre Füße sind noch weitestgehend intakt. Ich weiß nicht, ob es in dieser Welt irgendeine Art von medizinischer Versorgung gibt, irgendein Krankenhaus oder einen Heiler, aber wenn, dann muss sie ihn schleunigst aufsuchen. Auch wenn diese Chance wohl nur besteht, wenn der Kult, der sie hierher gebracht hat, diese Welt nicht komplett beherrscht. Doch auch so weiß ich nicht, wo ich mit der Suche anfangen soll. Die Häuser am Hang wären sicher ein guter Anfang, aber sie könnten genauso gut voller Leute sein, die mich ebenfalls diesen übereifrigen Aasfressern servieren wollen, von denen es bestimmt noch mehr hier gibt. In jedem Fall nicht die Zeit für eine lange Suche. Mit diesen Wunden überlebt sie im besten Fall noch ein oder zwei Stunden. Aber vielleicht kann ich ja doch mit ihr kommunizieren und ihr irgendetwas entlocken, was hilfreich ist. Zwar weiß ich nicht, wie weitgehend die Wirkungen ihrer Lähmung sind, aber zumindest schreien kann sie ja, also sollte Sprechen womöglich auch drin sein.

„Hey!“, sage ich zu ihr und lächle, „die Viecher sind weg, aber du siehst echt übel aus. Weißt du, wo ich jemanden finde, der dir helfen kann?“

Zu meiner Erleichterung scheint sie mich zu hören und ihr von Schmerzen und Drogen getrübter Blick richtet sich auf mich. Offenbar kann sie sogar ihren Kopf wieder etwas bewegen. Ein gutes Zeichen.

„Deirenschen, Nochlebender“, spricht sie sanft. Ihre Stimme ist rau, aber erstaunlich klar und jung, wenn auch nicht kindlich, „eigentlich sollte ich dich hassen, weil du meinen Abschied ruiniert und meiner Familie ihre Trauer vorenthalten hast. Aber das wäre unfair. Denn weißt du, du bist leider sehr viel übler dran als ich. Ich heiße übrigens Kruhni. Den Namen könntest du auch auf der Grabplatte unter mir lesen, wenn die Endoren mich gänzlich verdaut hätten.“

Sie lachte mit einer Mischung aus Spott, Herzlichkeit und Galgenhumor und dieses Lachen flößt mir mehr Angst ein als alles, was ich bisher von dieser Welt gesehen habe. Nicht weil es böse ist. Nein, es ist nur so unglaublich abgeklärt und so jenseits von Hoffnung wie ein geschlossener Sargdeckel.

„Ich heiße Adrian“, sage ich mit einem knappen Nicken, „und ich bin froh, dass ich deinen Namen von dir erfahre, statt von dieser Steinplatte. Oder wolltest du unbedingt sterben?“

„Absurderweise nein“, antwortet die Frau mit einem gespenstischen und zugleich melancholischen Grinsen, das blütenweiße Zähne offenbart, „eigentlich sollte das nicht so sein. Ich bin eine Grabvermählte seit meiner Geburt und meine Tage sind längst gezählt. Überfällig sogar. Ich sollte leidenschaftliche Sehnsucht nach dem Ende empfinden. Aber irgendwie bin ich wohl ziemlich mies in meiner Rolle. So mies, dass die Hochnatorinnen mir dieses Lähmungsgift einflößen mussten. Das ist eher unüblich. Die meisten Grabvermählten geben sich am Ende ihrer kurzen Leben der Speisung der Endoren freiwillig hin. Was für ein unartiges Mädchen ich doch bin, dass ich mich mehr nach dem Leben sehne als nach dem Tod. Aber das spielt keine Rolle. Sie werden mich holen. Und dich auch.“

„Wer wird mich holen?“, frage ich verwirrt.

„Ich“, sagt eine Stimme, die von kalter Autorität erfüllt ist.

Ich drehe mich zu der Sprecherin um. Es ist eine Frau. Schlank und großgewachsen in einem dunkelgrauen Umhang, bestickt mit unzähligen Namen. Ihr Kopf ist kahlgeschoren, ihre Augen durchdringend und unerbittlich hypnotisch. Ja, fast habe ich das Gefühl in sie hineinzufallen, wenn ich sie nur lange genug ansehe und während ich das tue, spüre ich ein leises Brummen in meinen Ohren, wie von einem fernen sakralen Chor oder einer unterirdischen Maschine. Obwohl die Fremde nur ein paar Jahre älter aussieht als Kruhni, sind ihre Hände so fleckig, dürr und verschrumpelt wie die einer uralten Frau.

„Hi“, sage ich lächelnd und verstecke meine Angst hinter alberner Gelassenheit. Diese Taktik hat mir schon auf der Erde manchmal gute Dienste geleistet „echt schickes Outfit. Aber deine Hände … Puh. Vielleicht solltest du es mal mit Handcreme versuchen. Oder damit, keine Unschuldigen zu opfern.“

„Du hast Kruhni ihrem Schicksal entrissen“, sagt die Unbekannte ungerührt, „das kann nicht ungestraft bleiben. Der Tod ist uns heilig. Und die, die seine Gesetze brechen, müssen büßen. Dafür zu sorgen, ist meine Pflicht als Hochnatorin.“

„Eure Gesetze sind Mist. Und du wirst Kruhni kein einziges Haar krümmen“, sage ich entschlossen.

„Oh, das werde ich nicht, wenn das deine Sorge ist. Sie ist bereits verloren. Diese Endoren wurden bei ihrer Geburt ausgebrütet. Sie waren aneinander gebunden, seit ihrem ersten Atemzug. Und nun kann ihr Schicksal sich nicht erfüllen. Sie muss damit in Schande leben, falls der Tod sie nicht doch noch erwählen sollte. Das verdankt sie dir. Diese Schuld an ihr kann nicht getilgt werden. Aber die Schuld an der Gemeinschaft vielleicht schon. Komm mit mir und stell dich deiner Buße.“

„Tut mir leid, da muss ich ablehnen“, sage ich, denn irgendwie habe ich eine vage Ahnung, das diese „Buße“ nicht in ein paar freundlichen Worten und ein bisschen Blumengießen auf den Gräbern bestehen wird.

Noch während ich diese Worte spreche, benutze ich mein Pendel. Nicht um die Hochnatorin zu verletzen, sondern um meinen kleinen Zeittrick auszuprobieren. Doch die Schwingung wird direkt unterbrochen von irgendetwas Hartem, Glatten, das meinen Arm festhält. Ein rascher Blick auf meinen Unterarm offenbart mir, dass es sich um eine Skeletthand handelt, die einfach so aus der Erde hochgeschossen ist.

„Ernsthaft?“, frage ich genervt und spanne meinen Arm an, der die alten Knochen bereits zum Ächzen bringt, „das ist alles, was du aufzubieten hast?“

Die Hochnatorin antwortet nicht, aber dafür bricht der Knochen unter der Kraft meines eisernen Willens. Mein Stolz auf diesen Erfolg bekommt jedoch Risse als sich aus dem offenbar holen Knochen ein Strom kleiner, grauer Käfer ergießt.

„Scheiße!“, bringe ich noch hervor, dann sprudelt der Strom hinaus wie eine Flüssigkeit und bedeckt binnen Sekundenbruchteilen meinen ganzen Körper. Es gelingt mir noch, meinen Mund zu schließen, aber die Viecher scheinen eh nicht darauf aus zu sein, in mich hinein zu krabbeln. Stattdessen spüre ich hunderte, mikroskopisch kleine Stiche und Bisse auf meiner Haut und schließlich eine bleierne Müdigkeit, bevor die Käfer sich wieder in den Knochen zurückziehen und mein Sichtfeld auf eine überlegen lächelnde Hochnatorin freigeben.

„Man sollte gerade die kleinsten nie unterschätzen“, sagt sie, „doch vor allem sollten sich die Lebenden nie überschätzen.“

Ich höre ihre Worte, aber ich kann nicht darauf antworten. Abgesehen von meinem Herz, meinen Augen und meiner Atemmuskulatur kann ich nicht einen einzigen Muskel mehr bewegen. Aber entgegen meiner Befürchtungen bleibe ich bei Bewusstsein und kann dadurch beobachten, wie sich die Frau mich und Kruhni so mühelos über die Schultern wirft wie eine Kinderleiche. Gemessenen Schrittes macht sie sich auf den Weg zu eben jenen Hängen, deren beleuchtete Fenster ich bislang tunlichst gemieden habe.

~o~

Dieser Weg in die Gefangenschaft ist fast schon eine angenehme Abwechslung. Es ist ganz sicher nicht das erste Mal, dass ich in einer Zelle ende. Aber statt einfach ohnmächtig und ratlos dort zu erwachen, habe ich nun wenigstens Gelegenheit, mir ein Bild von meiner Umgebung zu verschaffen und mir alles genau einzuprägen, was einem möglichen Fluchtversuch nur dienlich sein kann.

Zwar ermöglicht mir meine starre Kopfhaltung nur einen sehr eingeschränkten Blick auf die Umgebung und ich kann weder Kruhni noch die Hochnatorin genau erkennen, aber dafür sehe ich viele andere Luth Nomorer, die mich neugierig beobachten. Ja wirklich, eine ganze Menge von ihnen und das, obwohl diese „Stadt“ ein klaustrophobischer Albtraum ist. Es gibt keine weitläufigen Hallen, keine breiten Gänge oder Versammlungsräume, sondern nur ein Gewirr aus steinernen Gängen, nie breiter als zwei Meter, bedeckt mit Runen, Symbolen, Moosen, Pilzen und Staub. Karg möbliert mit steinernen Betten und Tischen und auch mit Grüften und Grabsteinen, die wie so selbstverständlich wie konventionelle Möbel zwischen den engen Durchgängen oder inmitten von Kochnischen und Waschräumen stehen. Grober Leinenstoff kreiert an manchen Ecken einen Hauch von Privatsphäre, doch zumeist hocken die Luth Nomorer – gleich ob Kinder, Männer oder Frauen – auf engsten Raum zusammen, wie eingepferchte Ratten in dem trüben Nachmittagslicht, dass durch die Fenster fällt.

Es erinnert fast an einen Slum, aber mit einigen wesentlichen Unterschieden. Der feine Geruch nach Verwesung wird fast gänzlich überdeckt vom Duft erlesener Räucherungen. Die Gewänder der Luth Nomorer sind allesamt sauber, egal ob es die schlichten Kleider der einfachen Bürger oder die reich verzierten der Hochnatoren oder anderer Würdenträger sind. Ihre fahle Haut ist sauber und nicht wenige tragen erlesenen Schmuck. Zudem sehe ich auch Technologie. Geräte, die an Laptops oder Tablets erinnern, auch wenn mir die Darstellungen auf den Bildschirmen nichts sagen und die kantige, asymmetrisches Ästhetik sie klar von irdischer Technik unterscheidet. Dennoch sind das hier keine rückständigen Bauern und sie wirken auch nicht arm. Und sie strahlen ihre ganz eigene, feierliche Würde aus.

Viele der Frauen und auch einige Männer sehen mich interessiert an. Und ich muss zugeben, dass ich der schroffen Exotik ihrer schlanken, blassen Erscheinungen durchaus etwas abgewinnen kann. Bei einem Mann, dessen zukünftiges Ich bereits mit einer Insektoiden liiert war, ist das natürlich nicht verwunderlich. Doch so sehr ich mir in meinem kleinen, seltsamen Kopf wünsche und ausmale, dass dieses Interesse erotischer oder romantischer Natur sein könnte, so muss ich doch eingestehen, dass das – wenn überhaupt – nur auf einen Bruchteil der Bewohner dieser Stadt zutreffen wird. Die meisten sind wohl eher neugierig oder irritiert von diesem seltenen Besuch des

Vertreters einer anderen Spezies und vielleicht haben manche auch noch nie zuvor einen Menschen gesehen.

Ohnehin sind meine Fantasien nicht mehr als eine dürftige Ablenkung von der Tatsache, dass ich mich genauso gut auf den Weg zu meiner Hinrichtung wie zu meiner Inhaftierung befinden könnte. Immerhin haben diese Leute Kruhni unter Drogen gesetzt, damit sie lebendig gefressen werden kann. Wer sagt mir da, dass man mich nicht einfach in ein Krematorium überführt? Den unheilvollen Rauch der fernen Fabrik habe ich nicht vergessen und bin mir längst nicht mehr so sicher, ob es sich wirklich um eine Fabrik handelt. Das hier könnten gut die letzten Atemzüge und Beobachtungen in meinem Leben sein und ich habe nicht die geringste Möglichkeit, etwas dagegen zu tun. Ich kann ja nicht einmal fragen, was mir blüht.

Als würde dieser Gedanke nicht schon ausreichen, um jegliche Hormone in mir mit Eiswasser kaltzustellen, nimmt mir eine weitere Beobachtung endgültig jede Lust an einer noch so hypothetischen Affäre. Zunächst ist es mir nicht aufgefallen, so blass und dürr, wie die Luth Nomorer sind, aber inzwischen wird mir bewusst, dass sich nicht nur Lebende unter ihnen befinden. Manche von ihnen sind nicht nur blass, sondern auch vertrocknet, teigig oder an einigen Stellen aufgebläht und bei genauerem Hinsehen erkenne ich dunkle Flecken und sogar Insekten darunter hervorkriechen und an manchen Stellen gar Knochen hindurchschimmern.

Es sind eindeutig Leichen, manche Frisch verstorben, andere schon lange verschieden und sie werden von den Lebenden behandelt, als würden sie noch an ihrem Leben teilnehmen. Wortwörtlich. Manche liegen Arm in Arm mit ihren verstorbenen Partnern oder Verwandten und kuscheln sich eng an sie. Manche halten Händchen, küssen sie sogar oder schauen sie verliebt an und beim Gedanken, was sie vielleicht zu anderen Zeiten noch alles mit ihnen anstellen könnten, dreht sich mir der Magen um. Das ist so gottlos widerlich und unvorstellbar pervers, dass selbst ich es kaum ertrage. Und doch bewahrt es immer noch diese eigenartige Würde. So als ob die Einwohner von Luth Nomor die Leichen nicht als Mittel zur Triebbefriedigung sehen, sondern sie tatsächlich als lebende, fühlende Wesen anerkennen. Das sind keine Nekrophilen, nicht im klassischen Sinne. Aber dennoch ändert es nichts daran, dass ihr Verhalten vollkommen abartig ist. Vor allem, da die Partner der Verstorbenen nicht gegen die Auswirkungen des Leichengifts und der Keime und Parasiten gefeit zu sein scheinen, die von ihnen ausgehen. Manche der „Leichengefährten“ sehen sehr krank aus, haben Ausschlag, Entzündungen oder andere Zeichen von Infektionen oder Vergiftungen. Es ist nicht annähernd so schlimm wie in Hyronanin, aber ich vermute dennoch, dass diese Praktiken die Leute auf eine Abkürzung auf den Weg ins Grab führen werden.

Zum Glück sind nicht alle Luth Nomorer in solch einer morbiden Liaison gebunden. Einige von ihnen halten sich sogar auffällig fern von den Verstorbenen, soweit es die beengte räumliche Situation überhaupt zulässt. Zu ihnen gehört auch eine Frau mit langem schwarzen Haar, einer hohen Stirn und besonders hohem Wuchs, die mit ihrem kantigen Kopf beinah an die Decke stößt. Für eine Vertreterin dieses Volkes wirkt sie fast schon wohlgenährt, was in meiner Welt etwa einem leicht unterdurchschnittlichen Normalgewicht entsprechen würde. Und auch wenn ihre Haut fast genauso blass ist, wie bei allen anderen, sind ihre Wangen fast schon rosig und in ihre großen, grünen Augen scheinen wacher und lebensfroher als bei den meisten anderen, auch wenn tiefer Schmerz darin liegt. Ein Schmerz, der sich just in diesem Moment lichtet, als der Blick der Frau auf etwas hinter mir fällt. „Kruhni!“, beantwortet sie mir meine unausgesprochene (und für mich unaussprechbare) Frage. „Du lebst!“, fügt sie freudig hinzu und in ihren Augen glitzern Tränen, „bei allen endenden Pfaden, du lebst tatsächlich. Wie ist …?“

„Es war das schändliche Werk dieses Mannes hier. Er hat ihre Bestimmung ruiniert. Und du solltest dich nicht darüber freuen, sondern angemessenen Zorn zeigen. So etwas ziemt sich nicht. Schon gar nicht für die Tochter einer Hochnatorin“, höre ich die tadelnde Stimme meiner Geiselnehmerin antworten.

„Wenn du die Wahrheit sprichst, ist dieser Mann ein Held. Kruhni hat dieses barbarische Ritual nie gewollt. Sie hat viele Tränen deswegen vergossen und ich werde mich nicht für die Erleichterung schämen, meine Schwester wiederzusehen. Das kannst du vergessen, Zrebar“, sagt die Frau entschlossen und auch wenn meine Lippen gelähmt sind, spüre ich ein inneres Lächeln, da sie mich als Held bezeichnet. Diesen Titel habe ich lange nicht mehr gehört. Und er fühlt sich verdammt gut an. Besser als jeder Machtrausch, den ich früher empfunden habe und sicher besser als die Verachtung jener, die ich in Konor zu versklaven geholfen hatte.

„Jeder wählt seinen eigenen Weg zum Grab“, antwortet Zrebar trocken, „und jeder von uns muss mit den Konsequenzen dieses Weges leben. Wie deine sein werden, wird sich zeigen, Krimara. Aber die deines sogenannten Helden, so viel kann ich dir versprechen, werden fatal sein.“

Das wiederum kling nicht gut. Ganz und gar nicht gut. Plötzlich glaube ich fast, die Hitze eines Krematoriumfeuers wie eine spürbare Vorahnung auf meiner Haut zu fühlen.

„Du wirst weder meiner Schwester noch diesem Mann etwas antun“, setzt sich Krimara für mich ein und hebt sogar ihre knochigen Fäuste, wobei sich in ihrer Rechten sogar ein langer, kunstvoll gearbeiteter Dolch befindet. Die lebenden Luth Nomorer um sie herum reißen ihre Augen in Überraschung, Staunen oder auch Entsetzen auf. Doch niemand schreitet ein. Weder, um sie zu tadeln, noch um sie zu unterstützen und keiner ergreift das Wort.

„Du überschätzt deinen Einfluss, kleine“, warnt Zrebar scharf, „und deine Macht ohnehin. Aber bevor du noch etwas Unüberlegtes tust, will ich dir deine Schwester überlassen. Nicht die Ehre des Todes, sondern die Schande des Lebens ist ihr Los. Gerne auch an deiner Seite, wenn du das wünschst und sich ihre Wunden nicht doch noch als Tor in die große Stille erweisen. Sei damit zufrieden. Aber unsere Gesetze wirst du nicht ins Wanken bringen. Weder mit deinem Leben, noch mit deinem Tod.“

Mit diesen Worten wendet sich Zrebar um, sodass ich die junge, mutige Frau aus dem Blick verliere. Es ist zumindest ein milde tröstendes Gefühl, dass sich jemand für mich stark gemacht hat, aber ich bezweifle, dass sich Krimara für mich weiter in Gefahr begeben wird. Sie hat nun ihre Schwester zurück und hat mit ihren Worten wohl mehr riskiert als ich von einer Fremden oder selbst von einer guten Freundin hätte verlangen können. So lasse ich alle Hoffnung fahren, während Zrebar mich weiter durch die engen Gänge schleift, einem ungewissen, doch gewiss düsteren Schicksal entgegen.

~o~

Zu meiner Überraschung bringt mich die Hochnatorin nicht in eine Zelle. Zumindest nicht im klassischen Sinne. Es gibt hier keine Gitterstäbe, keine Wachen, sondern nur einen offenen, von Fackeln schwach erhellten Raum mit dunklen, kargen, aber runenverzierten Steinmauern und pechschwarzer Erde, auf dem sie mich fast schon sanft ablegt.

„Über dein Schicksal wird noch beraten, Nochlebender“, sagt Zrebar, bevor sie mich verlässt, „aber ich würde meine Hoffnungen nicht zu hoch hängen. Mein Einfluss unter den Hochnatoren ist nicht gering und ich denke, dass das, was du getan hast, Konsequenzen fordert. Das Nuanrokqua, das „Atmen der Erde“ wird dich mit deinen Taten konfrontieren, reinigen und letztlich im Tod willkommen heißen. Ach ja und falls du darüber nachdenkst zu fliehen: Lass es bleiben. Das erspart dir viel Leid. Aber das ist nur ein gutgemeinter Rat von mir.“

Sehr witzig, denke ich, der ja nicht einmal seine Lippen bewegen kann, während die Frau wieder in dem Gang verschwindet, durch den sie mich hierher getragen hat. Doch bereits nach einigen Minuten spüre ich ein Kribbeln in meinen Gliedmaßen, so als hätte sich eine Ameisenkolonie ein Nest in mir gebaut, bevor ich kurz meine Fähigkeit zu sprechen und mich zu bewegen vollständig zurückgewinne, so als wäre sie nie weg gewesen. Offenbar hat das Gift dieser Insekten seine Wirkung verloren oder es hat etwas mit diesem Ort hier zu tun.

Jedenfalls ergibt die Warnung von Zrebar jetzt wieder Sinn. Aber ihre einschüchternde Wirkung auf mich ist begrenzt. Immerhin hat die Hochnatorin ja deutlich gemacht, dass ich auch dann nicht mit Gnade zu rechnen habe, wenn ich brav auf mein Urteil warte. Ich weiß natürlich nicht genau, was das „Atmen der Erde“ bedeutet, aber wenn es nach all diesen Andeutungen nicht beinhaltet, lebendig begraben zu werden, fresse ich einen Scyonen. Außerdem würde ich meinem Titel als Fortgeschrittener sicher keine Ehre machen, wenn ich meine Grenzen nicht austeste. Falls irgendeine unsichtbare Falle meinen Fuß in Fetzen reißt oder mich mit Säure besprüht, ist das eben so. Aber es ist ja genauso möglich, dass dies lediglich eine perfide psychologische Methode ist, um sich den Aufwand für ein echtes Gefängnis zu ersparen. Lassen wir es doch mal drauf ankommen.

Ich stehe auf und gehe vorsichtig einen Schritt nach vorne. Die Erde unter mir gibt etwas nach, wie weicher Waldboden, aber mehr passiert nicht. Also mache ich noch einen Schritt. Wieder nichts. „Na dann hat ja wohl mal wer geblufft“, sage ich lachend und gehe direkt auf den Gang zu, um zurück in die Stadt zu gelangen, und meine Suche nach der Uhr fortzusetzen, wie auch immer ich das anstellen sollte.

Just in dieser Sekunde fegt ein regelrechter Sturm durch meinen Kopf. Ich denke an meine Eltern, die um mich weinen, an all das Leid, das ich verantwortet habe: an Korf, an Scavinee und ihrem Volk, an Nojun, an Ominee, an Garwenia, sogar an mir selbst. Und ich denke an mein eigenes Leben, das sich in so eine Sackgasse verwandelt hat, an das Kind in mir, den Teenager, voller Hoffnung und Entdeckungslust und an den Sklaven, den Mörder, das hilflose, ungeliebte Stück Abschaum, das ich jetzt bin. Bleierne Schwere erfüllt meine Brust und Tränen fließen, nein explodieren aus mir, während meine Brust sich krampfhaft zusammenzieht. Bis mir das Schluchzen, das Klagen, das Ersticken an Schuld und Trauer jegliche Kraft, jegliche Chance, jeglichen Willen zum Atmen, zum Denken und zum Handeln nehmen und …

Erschrocken taumle ich zurück und fühle mich sofort wieder etwas besser. Das Atmen fällt mir wieder leichter und mein Wunsch zu fliehen, ja überhaupt noch irgendetwas zu tun, kehrt behutsam zurück. Also gibt es hier doch Gitter, erkenne ich, Gitter, die direkt durch meine Seele reichen, sobald ich diese Grenze überquere.

„So eine Scheiße!“, sage ich und überlege dennoch einen erneuten Versuch zu unternehmen. Allerdings bringe ich nicht die Kraft dazu auf. Es ist wie bei einem Kind, das auf eine heiße Herdplatte gepackt hat. Ich weiß nicht, ob ich diesen Schmerz, diese Trauer, dieses Elend noch einmal ertragen kann. Ja, ich frage mich sogar, ob es nicht sogar angenehmer wäre, lebendig begraben zu werden. Dennoch gebe ich noch nicht auf. Es gibt noch weitere Herdplatten, auf die ich fassen kann. Man hat mir meinen Rucksack nicht weggenommen und wie ich beim kurzen Durchsuchen feststelle, enthält er sogar noch meinen Katalog. Womöglich haben sie ihn für ein gewöhnliches Buch gehalten und ihn mir zur Zerstreuung überlassen, damit mir nicht langweilig wird, während ich auf meinen Tod warte. Ich bete, dass es so ist.

Behutsam hole ich den Katalog hervor und spüre das zerknitterte Papier zwischen meinen Fingern. Ich weiß, dass mich Any womöglich filetieren wird, wenn ich Luth Nomor verlasse, ohne die Uhr besorgt zu haben. Aber anders als die Hochnatorin braucht sie meine Hilfe und ihre Drohung, mich in einen willenlosen Sklaven zu verwandeln, kann noch immer ein Bluff sein. Immerhin ist meine Kreativität und Unabhängigkeit genau das, was ihr fehlt. Sie wird sauer sein, ja. Aber vielleicht kann ich sie beschwichtigen.

Zrebar hingegen hat rein gar nichts von meiner Freiheit oder Existenz und ich habe sogar die Vermutung, dass sie kaum erwarten kann, mich zu bestrafen. Also blättere ich weiter bis zu den schwarzen Seiten und lese das nächste Wort. Und es funktioniert tatsächlich. Die Luth Nomorer haben die Macht des Katalog offenbar wirklich nicht gekannt, denn keine Angst, keine Trauer und keine unerträgliche Reue hält mich von dieser Reise ab.

Die Grotte verblasst um mich herum und würzige, feuchte Luft und wohlige Wärme treffen auf meine Haut. „Goodbye Luth Nomor“, denke ich und mache mich auf die Gefahren jener neuen Welt gefasst, als ein grauenhafter Ruck durch mein Solarplexus geht.

Ein Schmerz, nicht emotional, sondern ganz und gar körperlich, der droht meine Nerven zu zerreißen. Ein Gefühl des Ziehens, des ungebremsten Fallens, des Stolperns, des Saugens, so als würde ich durch das Leck in der Hülle eines Raumschiffs ins All gezogen und ehe ich mich versehe, stehe ich wieder im Verlies, den Katalog in der Hand, so als wäre nichts geschehen. Schnell schließe ich die Augen, um das Wort nicht erneut zu lesen, aus Angst diese Tortur noch einmal durchleiden zu müssen. Eins steht jedenfalls fest: Anys Macht ist tatsächlich größer als die des Katalogs und ihrer Kette kann ich nicht entkommen. Nicht auf diese Weise jedenfalls. Denn das sie es ist, die mein Entkommen verhindert und nicht Zrebar, steht für mich außer Frage. Zu klar habe ich das Ziehen jener unsichtbaren Führleine in mir gespürt.

Verzweiflung will mich einmal mehr übermannen, aber ich weigere mich, mich ihr hinzugeben. Ich will nicht sterben. Schon gar nicht in Unfreiheit und unter der Kontrolle eines anderen. Ich muss überleben, um wieder frei sein zu können. Sogar, wenn es bedeutet, mich erst mal noch tiefer in die Sklaverei zu stürzen.

„Any, ich könnte echt deine Hilfe gebrauchen“, sage ich so cool und gelassen wie möglich, was nichts daran ändert, dass es dennoch nur ein erbärmliches Betteln ist, „wenn ich diese Welt nicht verlassen soll, muss ich wenigstens diese Zelle verlassen können, okay?“

Doch keine Antwort erklingt. Vielleicht geht es nicht auf diese Weise, denke ich, oder aber Any will mich erst ein wenig länger kriechen sehen, nachdem ich versucht habe, mich ihrem Befehl zu widersetzen. Womöglich kann mir das Pendel helfen, immerhin haben wir schon zuvor darüber kommuniziert. Also hole ich es hervor und umfasse es wie ein Ertrinkender seinen Rettungsring. Das ergibt auch Sinn, denn immerhin ist es meine letzte Hoffnung. „Bitte, Any“, flehe ich, diesmal deutlich energischer, „antworte mir. Dein Diener braucht Hilfe, wenn er dir dienen soll. Tarena und Andy sind schon fort. Du hast nur noch mich. Also hilf mir irgendwie, verdammt!“

Vorsichtig versetze ich das Pendel in Schwingung und fürchte erneut irgendeine Art von emotionaler Bestrafung, die aber nicht kommt. Jedenfalls nicht auf jene Weise, wie ich sie gerade noch erlebt habe, sondern geboren aus ganz konventioneller ganz natürlicher Scham. Ich fühle mich unendlich schäbig dabei, Any um Hilfe zu bitten. Kriecherisch und unwürdig und diese Unterwerfungsgeste ist umso schlimmer, da sie nicht mal von Erfolg gekrönt ist. Any antwortet immer noch nicht. Stattdessen empfange ich eine weitere Vision. Eine weitere Vision von dem einzigen Ort, an dem ich jetzt fast noch weniger gerne wäre als dort, wo ich gerade bin. Eine Vision aus Hyronanin.

~o~

Die Seuchenhöhlen. Die schwärende, blutende Beule im Untergrund Hyronanins. Getränkt und genährt vom Husten, den schrillen Schreien und dem endlosen Würgen Abertausender. Ein Ort des Elends. Ein Ort ohne Hoffnung, ohne Erlösung und Frieden. Und doch auch ein Ort des Wachstums. Des Gedeihens von Keimen, von Ausschlag, von Narben und sehr oft von Geschwüren, wie den beiden unscheinbaren Zellklumpen, die sanft gebettet auf der feuchten, stinkenden Erde liegen.

Sie sehen widerlich aus. Glänzend, warzig, amorph und pulsierend wie von gefährlichem, qualvollen Leben. Insofern passen sie perfekt in diese Welt. Und dennoch kommen sie nicht von hier, sondern haben eine weite Reise hinter sich. Eine Reise durch Raum, Zeit und Gestein. Doch nun sind sie hier. Und sie wachsen, nehmen Form an und verlieren an Hässlichkeit, je mehr sie an Gestalt zunehmen. Der eine Klumpen mehr als der andere. Denn aus ihm wird eine Frau, fast menschlich, mit ein paar insektoiden Anteilen. Eine Frau, die hustend zu Bewusstsein erwacht, direkt neben ihrem deutlich käferähnlicheren, wasserköpfigen Sohn.

„Wie … wie … was ist passiert … waren … wir …“, fragt sich Tarena laut, noch immer ziemlich desorientiert und ausnahmsweise um Worte verlegen.

„Tot“, meint Andy, „zumindest beinah.“

„So ist es wohl“, sagt Tarena, “dass wir es nicht mehr sind, muss mit Nollotsch zusammenhängen. Offenbar reicht die Macht seiner Sporen weiter als ich dachte. Und sein Einfluss auf uns auch. Dass er uns einfach aus dem Nichts wiederherstellen kann, ist beruhigend und erschreckend zugleich. Zeigt es doch wie absolut sein Einfluss auf uns ist. Er hat uns nicht nur verändert, sondern vollkommen ersetzt. Wir sind schon seine Handpuppen, noch mehr vielleicht als wir Anys sind. Wenn er uns auf diese Weise regenerieren kann, kann er uns wahrscheinlich auch zerstören, wenn wir nicht spuren.“

„Das muss nicht sein“, versucht Andy seine Mutter zu beruhigen, während er seine brandneuen Gliedmaßen betrachtet, „wenn das so wäre, hätte er dich wohl längst damit erpresst. Ich denke eher, dass es eine Ausnahmesituation ist. Vielleicht ermöglicht durch die Magie dieser Höhlen. Ich weiß auch nicht, wie genau das funktionieren kann, aber ich vermute, dass unsere … Säfte durch den Untergrund gesunken und dort auf die lebensrettenden Eigenschaften der Seuchenhöhlen gestoßen sind. Hier drin kann nun einmal nichts wirklich sterben, oder?“

„Keine schlechte Theorie“, lobt Tarena, „auch wenn sie ohne Nollotschs Einfluss nicht denkbar ist. Nach allem, was ich aus Adrians Berichten über diesen Ort weiß, garantiert er zwar das Leben, nicht aber seine Form. Unser Bewusstsein wäre an den Schleim gebunden, den dieser Peststurm dort draußen hinterlassen hat.“

„Grausame Vorstellung“, sagt Andy, „falls Adrian keinen Mist erzählt hat, zumindest. Aber dann hätten wir nicht ohnmächtig werden sollen, oder? Hast du denn etwas gespürt, während wir … fort waren?“

„Tatsächlich ja“, sagt Tarena nachdenklich, „nicht viel, nur eine dumpfe Geborgenheit wie zu meiner Zeit als Larve. Es war nicht einmal unangenehm. Und du?“

„Gar nichts“, sagt Andy, „überhaupt nichts. Erst wieder, als sich mein Körper vollständig rekonstruiert hatte. Vielleicht bin ich ja nicht einmal wirklich beseelt.“

„Sag so etwas nicht!“, tadelt Tarena, „das ist Schwachsinn. Du bist ein gutes und warmherziges Wesen.“

Andys zirpendes Lachen hallte durch die Seuchenhöhlen, „wir haben uns nie belogen Mutter und wir sollten auch nicht damit anfangen. Vielleicht bin ich innerlich nicht ganz so hässlich wie äußerlich, aber ein netter lieber Junge bin ich gewiss nicht. Und vielleicht will ich das auch gar nicht sein.“

„Die meisten netten Jungs mussten auch nicht halb so viel ertragen wie du. Und du stammst aus einem Volk von Jägern. Natürlich bist du hart. Aber du bist nicht grausam. Nicht zu denen, die es nicht verdienen. Das ist nicht unsere Art“, sagt Tarena sanft und sieht ihren Sohn mit mütterlicher Liebe an.

„Das hoffe ich“, sagt Andy nachdenklich, „lieber bin ich ein Jäger als ein Krebsgeschwür. Aber für solche Fragen ist später noch Zeit. Jetzt sollten wir diese Höhlen erforschen und unsere erneute Beinfreiheit genießen. Schlimmer als dort oben oder in unserer Kapsel kann es kaum werden, oder?“

„Da bin ich mir nicht so sicher“, sagt Tarena während sie ihren Blick über die von Keimbeuteln, siechenden Flechten und anderen ungesund aussehenden organischen Strukturen überzogenen Höhlen schweifen lässt, die sie allesamt von Adrians Beschreibungen wiedererkennt, „ich fürchte der schwierigste Teil unserer Mission hat gerade erst begonnen.“

~o~

„Kannst du mir sagen, wie der Stand für unseren geplanten Angriff auf das Efryum ist?“, hört sie die Stimme des freundlichen Mannes.

„Unsere Truppen sammeln sich bereits auf Zireng-Wra. Das ist laut der Berechnung der Scyonen die bewohnbare Welt, die am nächsten zum wahrscheinlichen, aktuellen Aufenthaltsort des Efryums liegt“, erwidert Sandra heiter. Sie ist so froh, einen so kompetenten Vorgesetzten zu haben. Sie mag ihn sogar noch lieber als den strengen, aber weisen Scyonen an seiner Seite.

„Sehr gut“, sagt Lyon lächelnd und mit diesem zugleich melancholischen, reuevollen Ausdruck, den Sandra nicht zu deuten weiß, „wer gehört zu diesen Truppen?“

„Alle, die wir mobilisieren konnten. Abgesandte der Scyonen, die nicht im Krieg auf ihrer Heimatwelt gebunden sind. Diverse Laarmaschk, ein bunt zusammengewürfeltes Regiment aus den verschiedensten unserer Anhänger. Und natürlich die Fortgeschrittenen um Kendron. Alles in allem etwa zehn Millionen Kämpfer, würde ich schätzen. Aber es werden noch mehr. Sie müssen sich erst noch sammeln. Nicht jeder von ihnen kann über den Zwischenraum reisen oder beherrscht die seltene Kunst der Duplex-Katalog-Nutzung.“

„Das ist eine ganze Menge“, mein Lyon anerkennend, „wie hast du sie mobilisiert? Normalerweise ist der Wille dazu, sich im Krieg zu stellen bei vielen unserer Leute eher verhalten. Manche tun es aus Überzeugung klar, andere aus … nun sagen wir einer Faszination für den Kampf. Aber die meisten wollen einfach ein angenehmes Leben, was ich sehr gut verstehen kann.“

„Sie haben den Ruf gehört“, sagt Sandra knapp, aber zufrieden und mit vor Stolz leuchtenden Augen. Lyon kann nicht verhindern, dass ihm ein Schauer über den Rücken fährt, während er sie so sieht.

„Die werden sich doch sicher schon gegenseitig an die Gurgel gehen. Vor allem, da Zireng-Wra eine öde Steppe mit ein paar Forschungsstationen und stinkenden Eingeborenen-Dörfern ist. Ich vermute, wenn wir noch ein paar Tage auf den Angriff warten, haben wir nur noch sechs Millionen Krieger und dafür vier Millionen Leichen“, meint der Scyone misstrauisch und lacht bitter.

„Hat es denn Konflikte gegeben?“, erkundigt sich Lyon deutlich sachlicher.

„Nein, keine ernsthaften“, antwortet Sandra, „ein paar Mal haben sich kleine Streitigkeiten ergeben, aber ich konnte sie schnell … schlichten.“

„Gut“, sagt Lyon zögernd, während er ihrem Blick zugleich ängstlich und verlegen ausweicht, „achte nur darauf, dass sie sich versteckt halten und keiner Patrouille von Pendulas Maschinenschwärmern auffallen. Andernfalls könnte das übel ausgehen.“

„Keine Angst“, sagt Sandra und streicht sich lächelnd durch ihre volle Lockenpracht, „sie verbergend sich im Untergrund. Ich habe sie … ich meine, sie haben sich dafür entschieden, Tunnel zu graben und die ankommenden Schiffe werden großflächig durch ein Störfeld verborgen. Niemand wird uns sehen.“

„Wäre das alles?“, fragt Sandra, „ich muss noch ein paar Botschaften an die entlegeneren Welten raussenden. Dafür brauche ich leider Konzentration. Tut mir leid. Ich will auf keinen Fall unhöflich sein.“

„Alles gut“, antwortet Lyon rasch, „wir lassen dich in Ruhe arbeiten. Sag uns einfach Bescheid, wenn du den Zeitpunkt für einen Angriff für gekommen hältst. Und iss etwas. Es nützt niemanden etwas, wenn du vor Erschöpfung zusammenbrichst.“

„Natürlich“, sagt Sandra nickend und bekommt dann wieder jenen abwesenden Blick, den sie die letzten Tage so oft gezeigt hat und der ihnen das größte kampfbereite Heer in der Geschichte von Astrera eingebracht hat.

„Komm wir gehen“, sagt Lyon zu dem Scyonen, der ihm ausnahmsweise einmal nicht widerspricht.

„Du kannst mich ruhig loben“, meint Novrur grinsend als sie außerhalb von Sandras Hörweite sind.

„Wofür?“, fragt Lyon zerstreut.

„Na, sie ist doch ein Prachtexemplar oder nicht? Zahmer als ein Saugroboter im Dienste Pendulas, aber immer noch Feuer im hübschen Hintern“, sagt Novrur, „genau was du wolltest.“

„Mag sein, dass ich es verlangt habe, aber wollen tue ich das hier trotzdem nicht“, sagt Lyon zerknirscht, „es ist geradezu abstoßend. Und traurig.“

„Nun mach dich mal locker. Es ist besser als sie zu töten, oder? So können wir von ihren Fähigkeiten profitieren, sie fühlt sich gewertschätzt und weil du ein so netter Junge bist und ich deine Gefühle nicht verletzen will, nutze ich ihren Gehorsam nicht einmal für persönliche Sklavendienste aus. Eine totale Win-Win-Situation, wenn du mich fragst“, antwortet Novrur.

„Da bin ich mir nicht so sicher“, sagt Lyon, „die echte Sandra würde hassen, was aus ihr geworden ist. Sie würde UNS hassen. Bis auf den Tod.“

„Spar dir dein Mitleid“, sagt Novrur, „sie ist kein gutes Wesen, selbst nicht nach meinen Maßstäben. Ich hab ein bisschen gelauscht, als ich ihren Geist zurechtgeschnitten habe. Ein paar Bilder aufgeschnappt. Wenn du wüsstest, was sie alles getan und gesagt hat, würdest du sie am liebsten lebendig einmauern. Deshalb sage ich es dir auch nicht. Nur soviel: sie ist keine Unschuldige. Du kannst also dein stetig plapperndes Gewissen zügeln.“

„Selbst wenn das stimmt, so versklaven wir immer noch unsere eigene Leute durch sie. Wir zwingen Sterne in den Krieg, die das nicht wollen“, widerspricht Lyon.

„Ja, aber wir tun das immerhin ohne offene Gewalt“, sagt Novrur, „und das ist das Wesen eines solchen Konflikts. Wer radikale Änderungen will, der kann nicht auf die Einsicht seines Feindes warten. Und wer sich einer Organisation wie der unseren anschließt, von dem sollte man ein wenig Engagement erwarten dürfen oder etwa nicht. Man nennt uns Sterne, weil wir für die Freiheit brennen, nicht weil wir kalt und tatenlos im Raum herumgammeln, oder etwa nicht?“

„Klingt mir alles verdächtig nach Rechtfertigungen und Relativierungen“, meint Lyon nachdenklich.

„Für mich klingt es nach einem möglichen Sieg“, antwortet Novrur, „und ich mag diesen Klang.“

„Dann achte besser darauf, dich nicht davon einlullen zu lassen“, sagt Lyon, der endgültig eingesehen hat, dass es wenig bringt, an Novrurs moralische Überzeugungen oder sein Gewissen zu appellieren, „gerade magst du sie an der Leine haben. Aber diese Frau ist inzwischen der Lage, Millionen Wesen über eine Entfernung von mehreren Lichtjahren zumindest gravierend zu beeinflussen. Allein mit der Macht ihrer Gedanken. Was glaubst du, was passiert, wenn du einmal die Kontrolle über diese Leine verlierst?“

„Sag du es mir doch“, sagte Novrur spitzbübisch, „ich habe nicht halb so viel Fantasie, wie du, mein Freund.“

„Dann“, sagt Lyon düster, „wird die Leine zur Peitsche.“

2 thoughts on “Fortgeschritten: Die Grabfelder von Luth Nomor

  1. Interessant, interessant.
    Stell ich mir echt schwer vor sich gut vom Knochwald vibe zu distanzieren. Ich kenne das Problem, es gibt halt leider nur begrenzt viele interessante Konzepte.

    Ich genieße es richtig Sandra in diesem Zustand zu sehen, haha.

    Ich sehe schon die hypothetische Affäre zwischen Adrian und der Tochter der Hochnatorin kommen.

    Bin schon gespannt wie es weiter geht.
    LG

    1. Hi. Klar, da wird es gewisse Berührungspunkte geben. Aber der Vibe von Luth Nomor wird wahrscheinlich melancholischer werden und sich neben Gore und Grusel auch stärker auf Verlust und Trauer konzentrieren. So ist zumindest der Plan. Ja, Sandra darf auch mal ein bisschen mehr leiden :D. Karma is a bitch. Schauen wir mal, ob ihre Knochen aneinanderrasseln ;D oder gar Armor zuschlägt und wenn ja, wie nachhaltig das wird. Adrian ist ja oft eher so der Typ Lebensabschnittsgefährte. Aber we will see.

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